23.12.2021 | Widersprüchliche Lage in Mali: Trotz Gewalt und Repression breite Beteiligung der Bevölkerung an nationalen Versammlungen

Die gesellschaftliche Lage in Mali ist unverändert dramatisch: Zum einen spitzt sich die Gewalteskalation immer weiter zu – insbesondere im Zentrum des Landes. So wurde am 3. Dezember morgens um 8 Uhr ein Lastwagen mit lokalen Händler:innen aus dem Dorf Songho in die Luft gesprengt. Er war auf dem Weg zum Markt in Bandiagara, 31 Menschen starben, darunter auch Kinder. Zum anderen ist die aus einem Doppelputsch hervorgegangene Übergangsregierung in jüngerer Zeit erheblich unter Druck geraten, ungeachtet dessen, dass sie weiterhin über großen Rückhalt in der breiten Bevölkerung verfügt. Ihr wird unter anderem vorgeworfen, den Übergangsprozess bis zu den nächsten regulären Wahlen unnötig in die Länge zu ziehen. Im Zentrum der Kritik steht Premierminister Choguel Maïga, nicht so sehr Assimi Goita, Offizier und eigentliches Staatsoberhaupt des Landes. Hinzu kommt, dass sich Angehörige der politischen Klasse vermehrt Anklagen gegenübersehen, ein für Mali eher unübliches Phänomen. Meist geht es um Bestechlichkeit und Unterschlagung, aber auch unliebsame Kritik soll mundtot gemacht werden.

Am spektakulärsten ist sicherlich die Inhaftierung von Oumar Mariko. Der 62-jährige Arzt ist Chef der sozialistischen Partei SADI (Solidarité africaine pour la démocratie et l’indépendance) – Schwesterpartei der hiesigen LINKEN. Eigentlich war Oumar Mariko – genauso wie der derzeitige Premierminister – prominentes Mitglied des Oppositionbündnisses M5, dessen Massenproteste im August 2020 in einen allenthalben begrüßten Putsch gegen den damaligen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita einmündeten. Doch jüngst hat sich der SADI-Chef mehrfach kritisch über den Übergangsprozess geäußert – auch darüber, dass viele der vereinbarten Maßnahmen nicht wie vereinbart umgesetzt wurden. Zum Verhängnis ist Oumar Mariko indessen ein privates Telefonat geworden, das auf unbekanntem Wege an die Öffentlichkeit gelangte: In diesem kritisiert er Choguel Maïga als „Lügner“, derb fügt er hinzu, dass er seinen Fuß in Maigas „Hinterteil“ stecken wolle. Was wie halbstarkes Gebaren anmutet, hat eine lange und durchaus ernste Vorgeschichte: Choguel Maïga war unter dem langjährigen Militärdiktatur Moussa Traoré (1968-1991) Studentenführer, während Oumar Mariko zur demokratischen Opposition gehörte. Umso ungehaltener reagierte der SADI-Chef – auch in besagten Telefonat, das zu seiner Festnahme wegen Beleidigung führte –, als Anfang Dezember Tonbandaufnahmen auftauchten, auf denen (mutmaßlich) Choguel Maïga die Demokratiebewegung der frühen 1990er Jahre verächtlich macht und den 2020 verstorbenen Diktator Moussa Traoré unverhohlen lobhudelt.

Derweil sieht sich die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS in ihrem harten Kurs gegenüber Bamako bestätigt: Bereits nach dem zweiten Putsch im Mai 2021 (der eher ein Stühlerücken innerhalb der Übergangsregierung als ein echter Regimewechsel war) hat die ECOWAS die Mitgliedschaft von Mali suspendiert. Im November 2021 wurden sodann Sanktionen verhängt, nachdem die Übergangsregierung erklärt hatte, dass sie am ursprünglich vereinbarten Wahltermin vom 22. Februar 2022 nicht festhalten würde – unter anderem deshalb, weil die prekäre Sicherheitslage in vielen Landesteilen die Durchführung von Wahlen nicht zulasse. Konkret belegte die ECOWAS 150 Personen aus der Übergangsregierung mit einem Reiseverbot für die gesamte ECOWAS-Zone – ausgenommen sind lediglich Übergangspräsident Assimi Goita und Außenminister Abdoulaye Diop. Zudem wurden die Vermögenswerte der 150 sanktionierten Personen eingefroren, vorausgesetzt, diese befinden sich auf Bankkonten innerhalb der ECOWAS-Zone.

Gleichwohl spricht vieles dafür, dass die Sanktionen falsch sind – und das gilt auch für den am 13.12.2021 gefällten Beschluss der EU-Außenminister, zukünftig all jene Akteure in Mali zu sanktionieren, die den Übergangsprozess (vermeintlich) sabotieren würden. Denn diese Sanktionen blenden wichtige Sachverhalte aus: Zum einen sollten die Gerichtsprozesse gegen Personen des öffentlichen Lebens nicht auf bloße politische Repression reduziert werden – so wie das im Falle von Oumar Mariko offenkundig der Fall ist. Vielmehr macht die Regierung endlich mit einer seit Jahrzehnten (auch vom Ausland geforderten) juristischen Verfolgung von Bestechlichkeit, Unterschlagung oder Urkundenfälschung ernst. Beispielsweise wurde Ende August Soumeylou Boubèye Maïga inhaftiert – einer der umtriebigsten Strippenzieher des politischen Betriebs in Bamako. Ihm wird vorgeworfen, 2014 – als Premierminister unter Präsident Ibrahim Boubakar Keita – beim Kauf eines neuen Präsidentenflugzeuges Geld unterschlagen zu haben, ein Vorgang, der bereits damals hohe Wellen in der Öffentlichkeit schlug. Zum anderem – und dieser Punkt ist ungleich wichtiger – hat die Übergangsregierung von Premierminister Choguel Maïga ihr anfängliches Versprechen eingelöst und zwischen dem 11. und 30. Dezember sogenannte „Nationale Versammlungen zur Neugründung“ des Staates und der Gesellschaft organisiert („Assises nationales de la Refondation“). Diese nationalen Versammlungen haben in einem ersten Schritt dezentral über das gesamte Land verteilt stattgefunden. In einem zweiten Schritt sollen nun Ende Dezember die lokalen Ergebnisse auf nationaler Ebene zusammengetragen bzw. synthetisiert werden.

Nationale Versammlung in einem Stadtteil in Bamako. Das Video steht hochkant, aber es vermittelt einen guten Eindruck davon, wie man sich die Atmosphäre einer solchen Versammlung vorstellen muss. Das Video stammt von einem Mitglied von Afrique-Europe-Interact.

Derartige Versammlungen sind nicht neu. Bereits beim Übergang zum Mehrparteiensystem Anfang der 1990er Jahre gab es in zahlreichen afrikanischen Ländern „nationale Versammlungen“, häufig in fließendem Übergang zu verfassungsgebenden Konventen. Mehr noch: In Krisen- und Umbruchzeiten sind nationale Versammlungen ein bewährtes Mittel zur Neuorientierung. Doch immer wieder werden deren Ergebnisse nicht umgesetzt. So hat in Mali 2019 der damalige „Nationale Dialog“ mit überwältigender Mehrheit beschlossen, dass der Staat in Verhandlungen mit terroristischen Gruppen eintreten möge. Leider ist dies an einer Art französischem Veto gescheitert, was auch der Grund dafür ist, dass die Übergangsregierung angekündigt hat, dieses Mal ernsthafter verfahren zu wollen. Gemeint ist dreierlei: Erstens, dass die Versammlungen sowohl lokal als auch national durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass alle, die das wollen, tatsächlich ihre Meinung kundtun können; zweitens, dass es die Empfehlungen des Gesamtprozesses abzuwarten gilt, bevor neue Wahlen stattfinden, auch für den Fall, dass grundlegende Veränderungen des institutionellen Gefüges gefordert werden; und drittens, dass die konkreten Resultate als bindend anerkannt werden.

Diese neue Ernsthaftigkeit schlägt sich auch in dem von der Regierung veröffentlichten Leitfaden zu den nationalen Versammlungen nieder. Ungeschminkt wird dort die aktuelle Lage geschildert und nicht weniger als die Neugründung der malischen Gesellschaft gefordert, welche sich in erster Linie auf das (vorkoloniale) politisch-institutionelle Erbe und jene Werte stützen solle, die von der malischen Bevölkerung bereits geteilt würden. Am 20.12.2021 wurden seitens der Übergangsregierung erste Berichte der lokalen Versammlungen veröffentlicht, wobei die Ergebnisse insgesamt nicht überraschen können: An einzelnen Orten wies die praktische Organisation zahlreiche Mängel auf, häufig hat die Zeit nicht gereicht, um alle 13 vorgeschlagenen Themenbereiche umfassend zu diskutieren, zudem war die Teilnahme von Frauen, Jugendlichen und Menschen mit Behinderungen teilweise unbefriedigend – ein Manko, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass viele der etablierten Parteien bereits im Vorfeld ihr Fernbleiben angekündigt hatten, unter anderem mit dem Argument, dass die grundlegenden Probleme Malis hinlänglich bekannt seien. Ungeachtet dessen sollte die Durchführung der nationalen Versammlungen als Achtungserfolg der Übergangsregierung gewürdigt werden, zumal viele der Empfehlungen sehr konkrete Maßnahmen enthalten – beispielsweise die Schaffung eines Hohen Rates traditioneller Autoritäten (wozu Ältestenräte, Dorfchefs etc. zählen), die Etablierung verschiedener Überwachungsmechanismen gegen Korruption etc., die Neuverhandlung der Bergbauverträge zwischen Staat und Bergbauindustrie, die Reduzierung der kaum überschaubaren Zahl politischer Parteien (um die unterschiedlichen Programmatiken besser erkennbar zu machen), die bessere Ausstattung der Sicherheitskräfte, die Gründung öffentlicher Universitäten im gesamten Land, der Aufbau von Ausbildungszentren für Jugendlichen etc.

Was von diesen Forderungen tatsächlich umgesetzt werden kann, sei dahingestellt, zumal die abschließenden Beratungen noch ausstehen. Doch deutlich dürfte werden, wie unangemessen es ist, wenn die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Sanktionen erlässt – unter Ausblendung der offenkundigen Bemühungen der Übergangsregierung, trotz hochgradig prekärer Sicherheitslage eine demokratische Teilhabe der Bevölkerung auf breiter Front zu gewährleisten. Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte auch deutlich werden, dass die kritische Öffentlichkeit in Europa einem grundlegenden Missverständnis aufsitzt, wenn sie die Vorgänge in Bamako einzig deshalb als undemokratisch einordnet, weil die Übergangsregierung aus einem militärischen Putsch hervorgegangen ist. Denn die Bevölkerung unterstützt deren Kurs mehrheitlich, einfach deshalb, weil sie weiß, dass eilig einberufene Wahlen einzig den etablierten Parteien in die Hände spielen würden, während sich neue Parteien und Bündnisse nicht rechtzeitig in Stellung bringen könnten.

Trotzalledem: So fragwürdig das von der EU offensiv unterstützte Vorgehen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ist, so falsch wäre es, die eingangs erwähnten Fehlentwicklungen nicht zu benennen. Hierzu gehören nicht nur Verhaftungen wie die des SADI-Chefs Oumar Mariko oder das zynische Kokettieren von Premierminister Choguel Maïga mit der jahrzehntelangen Diktatur von Moussa Traoré, sondern auch mangelhafte Koordinierung bei der Bekämpfung terroristischer Gruppen im Zentrum und Norden des Landes (vgl. den Blogeintrag „Marebougou im Zentrum Malis: Wie sich die Bevölkerung gegen die Belagerung von Dörfern durch Dschihadisten wehrt“ vom 26.11.2021). Hinzu kommt, dass sich das Protestbündnis M5, aus dem die Übergangsregierung ursprünglich hervorgegangen war, tief gespalten zeigt. Deutlich wird das insbesondere am Beispiel des populären Predigers Mahmoud Dicko, der im Frühsommer 2020 maßgeblich zum Erfolg der M5-Proteste beigetragen hat. Denn mittlerweile hat sich Mahmoud Dicko von M5 und somit auch von der Übergangsregierung immer stärker distanziert. Am 28.11.2021 kritisierte er in einer weithin beachteten Ansprache, dass die Übergangsregierung weder eine Vision noch eine konkrete Strategie für die Weiterentwicklung des Landes habe. Und dies umfasste auch die Kritik, dass Choguel Maïga das Land durch seine zugespitzten anti-französischen, mithin antiwestlichen Reden international zu stark isolieren würde – eine von vielen Menschen in Mali geteilte Kritik. Konkret meinte Mahmoud Dicko, dass er „nicht immer in der Moschee bleiben wird, während das Land abdriftet und die Menschen sich beschweren.“ Im Unterschied zu anderen populären Predigern – insbesondere Ousmane Madani Haïdara sowie Bouyé Haïdara (auch bekannt als Cherif von Nioro) – spricht sich Mahmoud Dicko außerdem für einen relativ frühen Wahltermin aus – nicht bereits im Februar 2022 (wie es die internationale Gemeinschaft fordert), aber auch nicht erst in zwei Jahren (wie es Teile der Übergangsregierung anstreben). Ob sich in diesen unterschiedlichen Herangehensweisen eine weitere Spaltung der malischen Gesellschaft abzeichnet oder ob sich so die politischen Ambitionen wechselseitig ausbremsen, die alle drei der genannten religiösen Führer hegen, bleibt abzuwarten. Deutlich wird lediglich, dass all jene Beobachter:innen irren, die die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der politischen Entwicklungen in Mali vorschnell auf scheinbar eindeutige Tendenzen wie „Militärdiktatur“, „Gewalteskalation“ oder „antiwestliche Ressentiments“ eindampfen.