Ökonomische Wende in Köln. Über die RZ und andere AhnInnen des 6. antirassistischen Grenzcamps
ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 473 / 16.5.2003
Die Entscheidung hatte durchaus Haken (vgl. ak 470), doch mittlerweile ist es sicher: Vom 31.7.-10.8. findet in Köln das 6. antirassistische Grenzcamp statt – inklusive dreitägigem Auftaktforum. Auch dieses Jahr steht das Camp im Kontext mit zahlreichen antirassistischen Camps sowie globalisierungskritischen Gipfelmobilisierungen quer durch Europa. Nicht zuletzt deshalb soll für Köln auch international mobilisiert werden.
Das Camp steht unter dem fast schon episch anmutenden Motto „Out for Control. Für globale Bewegungsfreiheit. Verwertungslogik und rassistische Ausgrenzung angreifen“. Worum es konkret geht, verrät der Aufruf. Er hebt an mit der schlichten Feststellung: „Rund um den Globus machen sich täglich unzählige Menschen auf den Weg.“ Mit anderen Worten, das Camp sucht den Schulterschluss mit dem, wofür sich in jüngerer Zeit immer stärker die Rede von der „Relativen Autonomie von Flucht und Migration“ durchgesetzt hat. Als Gegenpol steht dem, so der Aufruf weiter, das Bestreben insbesondere der reichen Industrieländer gegenüber, Flucht- und Migrationsbewegungen unter Kontrolle zu bringen:
„Mittels Migrationspolitik versuchen sie, MigrantInnen und Flüchtlinge gemäß ökonomischer Verwertungslogik aufzuspalten: Auf der einen Seite stehen die, deren billige, flexible und gewerkschaftlich unorganisierte Arbeitskraft erwünscht ist … Auf der anderen Seite stehen die Unerwünschten, für die es keine Verwendung gibt, aus denen kein Profit geschlagen werden kann.“ Betont wird, dass „Flüchtlinge und MigrantInnen jederzeit von der einen in die andere Gruppe geraten können, auch ohne eigenes Zutun“.
Anschaulich ausbuchstabiert werden solle diese generelle Programmatik in drei Praxis- bzw. Themenblöcken. „Kontrolle & Überwachung“: Angekündigt sind Aktionen gegen die deutsche IOM-Zentrale in Bonn, das Ausländerzentralregister in Köln und rassistische Personenkontrollen am Kölner Hauptbahnhof. „Arbeit & Verwertung“: In diesem Block sollen weniger konkrete Aktionsziele denn Thematiken benannt werden, unter anderem: Weltmarkt und internationale Migration; Lebens- und Arbeitsbedingungen von (illegalisierten) ArbeitsmigrantInnen; Geschlechtsspezifik von Flucht und Migration; Zwangsarbeit als zentrale historische Dimension von Arbeit und Verwertung. „Abschiebung & Abschreckung“: Geplant ist hier u.a., die Abschiebeflughäfen Düsseldorf bzw. Köln/Bonn „lahm zu legen“, auch soll es zum Frauenabschiebeknast nach Neuss gehen, schließlich soll die schwarz-grüne Stadtregierung in Köln „unter Druck“ gesetzt werden, aus dem Abschreckungsgeschäft auszusteigen. Dabei wird vor allem „das Recht auf freie Wohnungswahl für alle Flüchtlinge, die das wünschen“, gefordert.
Insgesamt wird deutlich, das Kölner Camp liegt im Trend, jedenfalls programmatisch: Es vollzieht dieselbe „ökonomische Wende“ wie bereits das Anfang Mai in Hannover über die Bühne gegangene kein mensch ist illegal-Forum. (vgl. ak 471) Im Zentrum von Antirassismus sollen nicht mehr nur Fluchtursachen, Lebensbedingungen von Flüchtlingen und drohende Abschiebungen stehen, sondern auch Arbeitsmigration und ihre globalen Hintergründe. Nicht zuletzt soll die substanzielle Verschränkung von Flucht und Migration thematisiert werden, insbesondere die Tatsache, dass nackte Verwertungslogik zunehmend zum zentralen Dreh- und Angelpunkt moderner Migrationspolitik avanciert. Einher geht das mit dem Versuch, Antirassismus zunehmend mit anderen Gruppen bzw. Teilbereichsbewegungen kurzzuschließen, mag es sich um GlobalisierungsaktivistInnen, selbstorganisierte Hausarbeiterinnen oder linke GewerkschafterInnen handeln.
Diese Neuausrichtung von Antirassismus ist insofern bemerkenswert, als ihre Wurzeln weit zurückreichen. So haben sich bereits in den 1980er Jahren – damals gab es Antirassismus als eigenständige Teilbereichsbewegung noch überhaupt nicht – die Revolutionären Zellen (RZ) für eine ökonomische Fundierung von Antirassismus stark gemacht. Zu Beginn ihrer so genannten Flüchtlingskampagne 1986 schreiben sie im Zorn-Extra Nr. 9, dass „Migrationsbewegungen … nur die Rauchschwaden eines Vulkans“ wären, „Ausdruck eines vom imperialistischen Weltsystem gesetzten Widerspruchs, der ein Proletariat neuen Typs hervorbringt; die mobilisierten, vertriebenen, entwurzelten Massen der 3. Welt“. Die antiimperialistische Linke müsse deshalb „den Willen und die Entschlossenheit der Flüchtlinge“ unterstützen, „aus den Verhältnissen auszubrechen und hier, in den Metropolen, ihren Anspruch auf Leben und Entschädigung“ zu artikulieren.
Inwieweit Flüchtlinge und MigrantInnen ein „mögliches Klassensubjekt“ wären und inwieweit sich deren Kämpfe „mit Konfrontationslinien im entgarantierten Sektor verbinden“ ließen, das hingegen wurde seitens der RZ eher skeptisch eingeschätzt. Schließlich ist es auch die RZ gewesen, die bereits früh die Verwertungswut rassistischer MigrationsbürokratInnen angeprangert hat: „Sie werden sich die menschlichen Rosinen sprich: (aus-)gebildete, leicht integrierbare Menschen aus dem Trikont und zukünftig auch aus der Sowjetunion herauspicken und den Rest – sofern nicht kurzfristig verwertbar – abschieben.“ (Anschlagserklärung Ausländeramt Böblingen 1991) Aber auch in anderen, nicht ausdrücklich sozialrevolutionär gesonnenen Zusammenhängen ist das Wissen um die politökonomische Dimension von Flucht und Migration eine Selbstverständlichkeit gewesen: So heißt es z.B. in der Einleitung eines im iz3w-Verlag 1993 erschienenen Sammelbandes lapidar: „Ignoriert wird dabei, dass die Globalisierung der Waren- und Arbeitsmärkte, die Migrations- und Fluchtbewegungen und die Brandstifter an den Schreibtischen und auf der Straße zusammengehören. Wer vom Rassismus redet, sollte vom Weltmarkt nicht schweigen.“
Allein, die theoretischen Einsichten mögen noch so hellsichtig gewesen sein, in der konkreten antirassistischen Praxis hat sich hiervon kaum etwas niedergeschlagen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, einige seien benannt: Anfang der 1990er Jahre ist es in Deutschland zu einer Eskalation rassistischer Gewalt und Verfolgung gekommen. Auf der einen Seite standen zahlreiche, vielerorts stillschweigend geduldete Anschläge bzw. Pogrome gegen Flüchtlinge und MigrantInnen, auf der anderen Seite diverse Maßnahmen des Staates: Die faktische Abschaffung des Asylrechts 1992, zusätzliche Schikanen gegen Flüchtlinge im Zuge der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 und schließlich ein explosionsartiger Anstieg von Abschiebungen. Allein zwischen 1988 und 1993 hat sich die Zahl von 3.000 auf über 30.000 Abschiebungen verzehnfacht. Die antirassistische Linke ist hierdurch weitgehend in die Defensive geraten. Eigenständige, etwa sozialrevolutionäre Akzentsetzungen waren kaum noch möglich, die alltägliche Arbeit hat sich stattdessen auf die Abwehr des Allerschlimmsten beschränkt – nicht selten in Gestalt konkreter Unterstützungsarbeit.
Hinzu kam, dass die politische Auseinandersetzung mit Lohnarbeit und Kapital innerhalb undogmatischer linker Zusammenhänge die gesamten 1980er und 1990er Jahre über nicht sonderlich populär gewesen ist. Das hat die breite Bezugnahme auf ArbeitsmigrantInnen und deren vielfältige, in der Regel alltägliche Widerstandspraxen zusätzlich erschwert. Schließlich dürfte es dem moralischen, auch rassistisch-paternalistisch aufgeladenen Rigorismus vieler Linker bestens zupass gekommen sein, sich vor allem um Flüchtlinge als den vorgeblich Allerärmsten kümmern (sic) zu können; stellt das doch die eigene Person deutlich weniger in Frage als die politische Bezugnahme auf relativ selbstbewusste ArbeitsmigrantInnen, die ohnehin nur, so der linke Subtext, ob des schnöden Lohnarbeitens nach Deutschland gekommen sind.
Heute hingegen ist so manches anders: Der rassistische Druck seitens Staat und Gesellschaft ist zwar weiterhin groß, dafür spielt mittlerweile für viele Linke die konkrete Thematisierung kapitalistischer Erwerbsarbeitsverhältnisse eine ungleich größere Rolle als ehedem. Dies dürfte einerseits mit dem generellen Ökonomisierungsschub zu tun haben, den linke Praxis spätestens seit Seattle, d.h. im Zuge praktischer und theoretischer Globalisierungskritik erfahren hat. Andererseits geht es vielen Linken heute selber an den Kragen. Die Zeiten, in denen der individuelle „Kohleerwerb“ mehr oder minder Nebensache war, sind definitiv vorbei – Hartz lässt grüßen. Hierdurch ist „kapitalistische Erwerbsarbeit“ quasi von selbst auf die linke Agenda geraten. Im antirassistischen Kontext hat das die Offenheit für Arbeitsmigration und verwandte Thematiken enorm erhöht – zusammen mit weiteren Geschehnissen wie z.B. die vor zwei Jahren erfolgte Debatte um das so genannte Zuwanderungsgesetz, in dessen Zentrum ja die ökonomische Dimension von Migration ebenfalls steht.
Ungeklärt bleibt allerdings, welche politischen Perspektiven mit einer intensivierten linken bzw. antirassistischen Bezugnahme auf Arbeitsmigration verbunden sind. Nur noch wenige dürften derart ungestüm gesonnen sein wie Anfang der 1990er Jahre das AntiRassismusBüro Bremen: „Wir sahen in den … Flüchtlingen die Vorhut der enteigneten trikontinentalen Massen und sahen angesichts unkontrollierbar steigender Flüchtlingszahlen das Potenzial für eine Überhitzung in Deutschland.“ (vgl. ak 444) Statt dessen heißt es heute zurückhaltender, z.B. in der zweiten Einladung zum kein mensch ist illegal-Forum in Hannover, dass die Autonomie der Migration „zwischen sozialer Widerständigkeit und individueller Überlebenspraxis“ angesiedelt wäre. Ihr soziales Potenzial müsse ausgelotet, d.h. es müsse in Erfahrung gebracht werden, welche „(Über-)Lebens- und Kampferfahrungen in den Netzwerken der Migration“ tatsächlich zirkulierten. Ähnlich, wenn auch radikaler, stellt kanak attak das Primat des subjektiven Faktors heraus: Kritisiert wird, dass die im Kontext der RZ-Flüchtlingskampagne entstandene Forderung für „Freies Fluten“ von vielen Linken „weniger vom Standpunkt der emphatischen ,Identifizierung mit dem Symptom des Ausschlusses` (Zizek), d.h. von den ,subjektiven` Reproduktionsinteressen des nackten (Über)Lebens der MigrantInnen aus“ unterstützt worden wäre, sondern vielmehr „aus der antiimperialistischen bzw. internationalistisch hergeleiteten ,objektiven` Analyse des Ausbeutungsverhältnisses von Metropole und Trikont“. (Fantomas Nr. 2) Mit anderen Worten, auch kanak attak fordert die Bezugnahme auf ArbeitsmigrantInnen und deren Kämpfe ein – Stichwort Kanak-Operaismus. Problematisiert wird indessen der Blickwinkel, aus dem das mitunter geschieht.
Last but not least: Am Anfang des diesjährigen Grenzcamps wird ein dreitägiges Auftaktforum stehen. Auf diesem soll es zum einen um die Camp-Schwerpunkte gehen, zum anderen um „prinzipielle Debatten“ darüber, welche „politische und strategische Bedeutung“ Antirassismus zukommt. Anders als auf den bisherigen Camps wird es also erstmalig hinreichend Platz für inhaltliche Auseinandersetzungen geben, ob über ökonomische Wendungen, die richtige Strategie, Antirassismus in die Offensive zu bekommen oder all die Fragen, die sich im Prozess intensivierter Kooperation zwischen Flüchtlingen, MigrantInnen und Menschen ohne Flucht- und Migrationshintergrund ergeben. Wer Interesse hat, etwas anzubieten, so die OrganisatorInnen, soll sich bitte bei ihnen melden. Adressen, Aufruf und weitere Materialien sind unter www.nadir.org/camp03 zu finden.
Olaf Bernau – alias Gregor Samsa