De-fencing in erweiterter Perspektive. Sommerliche Anti-Lager-Tour möchte neue Schnittstellen erproben

Sommerliche Anti-Lager-Tour möchte neue Schnittstellen erproben

ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 483 / 23.4.2004

Eigentlich war die Sache schon in Köln gelaufen: Das Antirassistische Grenzcamp ist am Ende, es ist endgültig an seinen inneren Widersprüchen gescheitert. (vgl. ak 477) Vor diesem Hintergrund hat sich mittlerweile aus Teilen des bisherigen Grenzcamp-Zusammenhangs ein neues bundesweites Bündnis gebildet. An ihm sind unter anderem The Voice, mehrere Gruppen aus dem kein-mensch-ist-illegal-Netzwerk, Karawane, FrauenLesben-Zusammenhänge, Brandenburger Flüchtlingsinitiative, JungdemokratInnen sowie diverse autonome (antirassistische) Gruppen beteiligt. Auf zwei außergewöhnlich gut besuchten Vorbereitungstreffen wurde beschlossen, im Spätsommer 2004 eine ca. zwölftägige Anti-Lager-Tour auf die Beine zu stellen.

Von West nach Ost sollen zwischen dem 22. August und dem 5. September sechs bis acht jeweils unterschiedliche Lager(typen) angesteuert werden. An drei Orten soll einige Tage gecampt werden, ansonsten sind eher Stippvisiten vorgesehen. Auf jeden Fall soll es überall – in Kooperation mit lokalen Vorbereitungsbündnissen – „de-fencing“- und andere Aktionen geben. Eine ebenfalls zentrale Rolle dürften die gemeinsamen Tour-Fahrten per Bus und PKW spielen, allein schon ob der drohenden Residenzpflichtkontrollen. Als mögliche Tour-Orte stehen derzeit Neuss, Bramsche/Osnabrück, Hannover, Halberstadt, Tramm/Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Eisenhüttenstadt in der engeren Wahl.

Auch wenn allgemein von „Lagern“ die Rede ist, es besteht Einigkeit darüber, dass das (globale) Universum der Lager äußerst vielschichtig ist: Allein in Deutschland lassen sich vier Lagertypen unterscheiden: Zentrale Erstaufnahmestellen, Sammellager für Flüchtlinge, Abschiebeknäste und Ausreisezentren, also Abschiebelager. (vgl. ak 474) Hinzu kommen prototypische Zwischenformen wie das für 550 Menschen ausgelegte Lager in Bramsche/Osnabrück. Dort wird versucht, auch Flüchtlinge, deren Asylverfahren noch laufen, mittels Techniken zur so genannten freiwilligen Ausreise oder in die Illegalität zu drängen, die eigentlich dem Repressionsarsenal der Ausreisezentren entstammen.

Aus kontrolltechnologischer Perspektive ist das deutsche Lagersystem innerhalb Europas das zweifelsohne effektivste. Das hat einerseits mit seiner engmaschigen Dezentralität zu tun, andererseits damit, dass Flüchtlinge in Deutschland während ihrer gesamten, oft langjährigen Asylverfahren prinzipiell in Lagern anstatt in eigenen Wohnungen untergebracht sind. Umgekehrt wird in jüngerer Zeit auch andernorts ein forcierter Ausbau des Lagerregimes betrieben, unter anderem in England, den Niederlanden und Italien. Nicht weniger Aufmerksamkeit sollte dem expandierenden Lagergürtel entlang der neuen östlichen bzw. südöstlichen Außengrenzen der EU gezollt werden. (1) Bereits jetzt gibt es etwa 25 größtenteils EU-finanzierte Lager, die jeweils im äußersten Grenzgebiet der neuen EU-Beitrittsländer liegen und die zum Teil geschlossene Internierungen ganzer Gruppen vornehmen, etwa von afghanischen Flüchtlingen in Ungarn im September 2001.

Aus drei Gründen gilt es, solche Lager besonders unter die Lupe zu nehmen: Erstens ist dort rechtliche und andere Unterstützungsinfrastruktur kaum vorhanden; an ein faires Asylverfahren ist nicht zu denken, vielmehr drohen Erstaufnahme und Abschiebung nahtlos ineinander überzugehen. Zweitens laufen Flüchtlinge bzw. MigrantInnen Gefahr, beim Einkauf oder bei Anwaltsbesuchen inhaftiert zu werden. Die Lager sind in Grenzregionen angesiedelt, weshalb dort die Grenzpolizeien Sondervollmachten genießen. Ohne Einschaltung eines Gerichts können Flüchtlinge bzw. MigrantInnen innerhalb von 48 Stunden in das jeweils nächste, übernächste etc. Nachbarland „rückgeschoben“ werden unter dem Vorbehalt, dass das jeweilige Nachbarland als so genannter sicherer Drittstaat gilt.

Mit anderen Worten: Die Grenzlager eignen sich bestens dafür, in das Räderwerk der durch die EU-Erweiterung massenhaft anstehenden Kettenrückschiebungen eingebunden zu werden. Damit in dieser Hinsicht alles rechtens ist, wirbt die Bundesregierung im Übrigen dafür, die neue Nachbarschaft der erweiterten EU als Ring sicherer Drittstaaten zu definieren. Das würde auch Länder wie Weißrussland einschließen, ein Land also, das selber im Ruf steht, die Menschenrechte systematisch zu verletzen und das obendrein über keinen rechtlich verbürgten Flüchtlingsschutz verfügt.

Drittens könnte den Grenzlagern eine „katalysatorische Funktion“ (Helmut Dietrich) für die schrittweise Realisierung einiger innerhalb der EU und neuerdings auch des UNHCR diskutierten Pläne zukommen. Danach sollen Flüchtlinge und MigrantInnen zukünftig am Rande der EU oder besser noch kriegs- und krisenregionsnah untergebracht werden, etwaige Asylanträge sollen nur noch in solchen in der globalen „Peripherie“ errichteten Lagern gestellt werden können. Dass dies mehr sind als bloße Sandkastenspiele biopolitischer MigrationsbürokratInnen, zeigen nicht nur extra-territoriale Lager wie die von der IOM im Auftrag der australischen Regierung auf der Pazifikinsel Nauru betriebenen Internierungslager für boat-people-Flüchtlinge (vgl. ak 473), sondern auch jüngst gescheiterte Verhandlungen zwischen England und Tansania: Danach hätten in England abgelehnte AsylbewerberInnen aus Somalia gegen Bezahlung in Lager nach Tansania „verbracht“ werden sollen, alles weitere wäre sodann in den Verantwortungsbereich der tansaniischen Behörden gefallen. Bereits im vergangenen Jahr ist ein ähnliches Abkommen zwischen der Schweiz und dem Senegal erst in letzter Sekunde durch das sengalesische Parlament zu Fall gebracht worden.

Innerhalb des Vorbereitungsbündnisses der Anti-Lager-Tour ist mittlerweile eine fruchtbare Debatte darüber entstanden, vom welchem Blickwinkel aus Lager konzeptionell angegangen werden sollten. Die einen sprechen sich dafür aus, Lager in erster Linie als Orte rassistischer Verfolgung durch den Staat zu markieren: Zum einen würden Flüchtlinge durch die Lagerunterbringung „an sich“ festgesetzt und von der übrigen Bevölkerung isoliert werden; zum anderen produziere das lagerintern praktizierte Schikaneregime ständig Erfahrungen von Degradierung und Demütigung. Zweck sei es, Widerstand seitens der Flüchtlinge zu brechen bzw. gar nicht erst aufkommen zu lassen sowie Unterstützung von außen zu verunmöglichen. Indem Flüchtlinge gleichmäßig über die gesamte BRD verteilt würden, seien sie leichter überwach- und kontrollierbar; außerdem könne so verhindert werden, dass sie sich (wie z.B. in England) vor allem in Großstädten niederließen und dort von der Unterstützung durch (ethnische) Community-Netzwerke profitierten. Vor diesem Hintergrund erschließe sich auch die absolut prominente Rolle der Residenzpflicht innerhalb des herrschenden Lagersystems. Sie sei eines der wichtigsten Instrumente, mittels derer die Anwesenheit der Flüchtlinge in den dezentral lokalisierten Lagern durchgesetzt würde. Übergeordnete Zielsetzung des Lagerregimes bleibe indessen, die Abschiebemaschinerie möglichst reibungslos am Laufen zu halten. Die Kämpfe gegen Lager und Abschiebungen seien deshalb die beiden Seiten derselben Medaille.

Im Grundsatz wird dieser Argumentation nicht widersprochen. Gleichwohl wird ein zweiter – komplementärer – Blickwinkel aufgemacht. Danach sollten Lager nicht nur als konkrete „physische Orte“ skandalisiert werden. Vielmehr sei im Lichte aktueller sozialpolitischer Angriffe ein „erweiterter Lagerbegriff“ erforderlich. Es gelte, das herrschende Lagerregime als Kristallisationspunkt einer immer stärker verallgemeinerten Logik der Ausgrenzung sowie der sozialen Hierarchisierung zu begreifen. Ob Arbeitslose, Studierende ohne reiches Elternhaus oder papierlose und andere in prekarisierten Jobs Beschäftigte – immer mehr Menschen seien mit der Zumutung sozialer Apartheid konfrontiert, liefen Gefahr, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.

Inwieweit die durch das Lagerregime praktizierte Politik des Ausschlusses im gesamtgesellschaftlichen Trend liege, sei beispielhaft an der neoliberalen Verwaltung des städtischen Raumes ablesbar: Dieser Raum erfahre zunehmend eine Parzellierung in abgetrennte Zonen bzw. Waben. (vgl. ak 475) Die innerhalb der jeweiligen Zonen geltenden und normativ aufgeladenen Verhaltenscodes würden durch ein Netz unterschiedlicher Kontroll-, Überwachungs- und Ausschließungstechniken durchgesetzt. Hierzu gehörten nicht nur Gitter, Sicherheitsdienste und Videokameras, sondern auch subtilere Techniken. So würden Obdachlose in Einkaufszentren mitunter durch kalte Windböen vertrieben, die via Klimaanlage gezielt an einzelnen Orten erzeugt werden könnten. Ziel dieser Politik sei es, soziale Differenzen territorial zu fixieren, d.h. unliebsame Personen im Namen von Konsum, Sicherheit und Sauberkeit räumlich in Schach zu halten. Am meisten betroffen wären bestimmte, durch den öffentlichen Diskurs zu „gefährlichen Klassen“ abgestempelte Randgruppen und Minderheiten wie Obdachlose, Skater, junge Männer mit migrantischem Hintergrund, Junkies, Prostituierte etc. Nicht anders als vielen Flüchtlingen drohe ihnen durch (weitere) Vertreibung „das Außen, das überall sein kann, da es den toten Winkel des demokratisch liberalen Einschlusses darstellt, den Nicht-Ort der Umkehrung des biopolitischen ,Leben-Machens` in ein unauffälliges soziales oder reales ,Sterben-Lassen` …“ (Oliver Razac). Last but not least: Spiegelverkehrte Wiedergänger des Lagers sind „gated communities“, d.h. gesicherte Wohnanlagen; sie dürfen getrost als die paradoxeste Erscheinungsform neoliberaler Raumpolitik betrachtet werden. Allein in den USA lassen sich acht Millionen Menschen freiwillig einschließen und von Sicherheitsfirmen bewachen – aus Angst vor Kriminalität sowie dem Wunsch, unbehelligt „unter sich“ zu bleiben.

Im Zuge eines erweiterten und somit um politische Brückenschläge bemühten Lagerbegriffs sei es schließlich auch erforderlich, Lager unter politökonomischen Vorzeichen zu analysieren. So vertritt z.B. Tobias Pieper die These, dass eine von mehreren Funktionen des „dezentralen“ Lagersystems darin bestünde, als flexibel anzapfbares Arbeitskräftereservoir für lokale, sowohl reguläre als auch irreguläre Arbeitsmärkte zu fungieren. So erhielten in Baden-Württemberg ca. 42 Prozent aller Flüchtlinge durch das Arbeitsamt regelmäßig temporäre Arbeitserlaubnisse. Demgegenüber arbeiteten Flüchtlinge rund um Berlin zumeist irregulär (so denn sie überhaupt arbeiteten). Nicht selten würden die privaten Betreiberfirmen der Lager als informelle Arbeitsvermittler auftreten – inklusive Provisionsgebühren; sie akzeptierten deshalb auch, dass zahlreiche Flüchtlinge faktisch nicht in ihren Unterkünften leben. Ebenfalls bedeutsam sei in diesem Zusammenhang, dass insbesondere aus den neuen Ausreisezentren etwa die Hälfte der InsassInnen in die Illegalität abtauche. Auch diese Menschen stünden dem irregulären Arbeitsmarkt zur Verfügung.

Im Grundsatz werden diese Überlegungen rund um einen erweiterten Lagerbegriff innerhalb des Vorbereitungsbündnisses der Anti-Lager-Tour nicht in Frage gestellt. Gleichwohl wird starke Sorge vor überzogenen Vergleichen geäußert. So stelle es eine politisch falsche Nivellierung dar, würden am Ende erhöhte Freibadpreise direkt mit geschlossener Lagerinternierung ins Verhältnis gesetzt werden. Vielmehr gelte es stets das mitzudenken, was die grundlegende Differenz ausmache: Flüchtlingen und MigrantInnen drohe in Gestalt von Abschiebung der Verlust nicht nur aller sozialen, sondern außerdem aller staats-bürgerlichen Rechte (welche ohnehin schon stark beschnitten seien), d.h. die Reduzierung auf ihre „nackte Existenz“ (Giorgio Agamben). In diesem Sinne müsse es darum gehen, Abschiebelager als die zugespitzteste Form gesellschaftlicher Entrechtung zu benennen – als Spitze des Eisbergs, ohne indes den Eisberg selbst aus den Augen zu verlieren.

Olaf Bernau – alias Gregor Samsa

Anmerkungen:

1) vgl. Helmut Dietrich, „Flüchtlingslager an den neuen Außengrenzen – wie Europa expandiert“, http://www.materialien.org/texte/migration/
AussengrLager.pdf

2) vgl. Oliver Razac, Politische Geschichte des Stacheldrahts, Zürich 2003

3) vgl. Tobias Pieper, http://www.materialien.org/
texte/migration/lagersystemoekonomie.pdf