Jenseits von Palästina-Solidarität und Fahnenfetischismus. Diskussion im antirassistischen extra-meeting-Netzwerk

ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 485 / 18.6.2004

Okkupation ist Okkupation ist Okkupation. So in etwa lautete der kleinste gemeinsame Nenner eines zweitägigen Treffens, zu dem Mitte April das antirassistische extra-meeting-Netzwerk unter dem Arbeitstitel „Israel/Palästina – Antisemitismus/Antiislamismus“ eingeladen hatte. Auf Basis dieses Nenners war es möglich, die israelische Politik in den besetzten Gebieten zu kritisieren, ohne dabei jedoch in die trüben Gewässer antiimperialistischer Palästina-Solidarität abzudriften, was sich nicht nur in der entschiedenen Kritik an den palästinensischen Selbstmordattentaten ausdrückte.

Entstanden sind die so genannten extra-meetings aus den Antirassistischen Grenzcamps. Immer wieder ist es dort zu Konflikten nicht zuletzt zwischen „refugee“- und „non-refugee“-AktivistInnen gekommen. Es kam deshalb die Idee auf, sich zusätzlich, d.h. extra zu treffen: Ohne Zeit- und Organisationsdruck sollten insbesondere solche Probleme angegangen werden, die im Zuge gemeinsamer politischer Arbeit entstanden waren. Mittlerweile sind die extra-meetings zu einem Selbstläufer geworden. Etwa die Hälfte der Beteiligten sind AktivistInnen aus selbstorganisierten Flüchtlingsgruppen (vor allem The Voice, Karawane und Brandenburger Flüchtlingsinitiative), die andere Hälfte kommt aus autonomen, antirassistischen und feministischen Zusammenhängen. Diskutiert werden sowohl grundsätzliche als auch strategische Fragen. So ist z.B. das Grundgerüst der diesjährigen Anti-Lager-Action-Tour auf einem extra-meeting entwickelt worden.

Bereits seit Jahren werden internationalistisch ausgerichtete Flüchtlingsorganisationen wie die Karawane oder The Voice regelmäßig des Antizionismus bzw. des Antisemitismus bezichtigt. Meist ist das dann der Fall, wenn diese irgendwelche internationalen Aufrufe mit (vorgeblich) anti-israelischer bzw. anti-amerikanischer Schlagseite zirkulieren lassen. Wie komplex und widersprüchlich das gesamte Terrain sein kann, ist spätestens seit der UN-Antirassismus-Konferenz 2001 im südafrikanischen Durban hinlänglich bekannt. Vor diesem Hintergrund wurde schon vor längerem vereinbart, die Problematik auf einem extra-meeting zu verhandeln.

Dass die Angelegenheit delikat ist, wurde bereits an der Schwierigkeit deutlich, sich überhaupt auf einen gemeinsamen Titel für das Treffen zu verständigen. Die deutschen AktivistInnen innerhalb der gemischt zusammengesetzten Vorbereitungsgruppe plädierten dafür, Holocaust und Antisemitismus als elementaren Bestandteil des thematischen Gesamtkomplexes zu betrachten. Zum einen sei Israel erst durch den Holocaust zur historischen Notwendigkeit geworden; zum anderen sei zu diskutieren, inwieweit innerhalb der aktuellen Konfliktdynamik so genannter Arabischer Antisemitismus eine Rolle spiele.

Dieser Argumentation widersprachen AktivistInnen von The Voice vehement: Es ginge um die Beschäftigung mit einer konkreten Situation im Hier und Jetzt. Demgegenüber würden Holocaust und Antisemitismus nicht nur in Israel, sondern auch von großen Teilen der deutschen Linken instrumentalisiert, um eine kolonialistische Besatzungspraxis und Antiislamismus zu legitimieren. Es sei politisch unakzeptabel, die unterschiedlichen Gewaltverhältnisse gegeneinander auszuspielen; des Weiteren seien sie es leid, ständig in aggressiver und mitunter rassistisch aufgeladener Manier in die antisemitische bzw. antiisraelische Ecke gestellt zu werden.

Die Debatte im Vorfeld spitzte sich zu, als von deutscher Seite der dort entstandene Eindruck formuliert wurde, die palästinensischen AktivistInnen innerhalb der Vorbereitungsgruppe würden zu leichtfertig über den Holocaust hinweghuschen. Ohne weiteres Innehalten schwenkten sie vom Holocaust direkt zum Leid der PalästinenserInnen über. Das würde der besonderen Dimension des Holocaust nicht gerecht werden, auch dem nicht, was der Holocaust noch heute für viele Juden und Jüdinnen persönlich bedeutete. Ein palästinensischer Aktivist antwortete hierauf, dass es bei ihm durchaus „sehr viel Gefühle“ gebe, wenn es um den Holocaust ginge; umgekehrt müsste aber auch gesehen werden, dass er, der nicht nur in Israel/Palästina, sondern auch in Deutschland als palästinensischer Flüchtling leben würde, einen notwendig anderen Blickwinkel hätte. Er schloss seinen Beitrag mit der etwas konsternierten Frage: „Was erwartet ihr eigentlich von mir?“

Ein anderer Aktivist ging weiter: Nach ihm sei der Holocaust eine überwiegend deutsche bzw. europäische Angelegenheit, er als Palästinenser habe nichts damit zu tun. Dem wiederum wurde nicht nur von deutscher Seite widersprochen: Die Erinnerung an den Holocaust ginge alle Menschen etwas an, sie sei zu universalisieren; schließlich sollte es ein genuin linkes Anliegen sein, historisches bzw. aktuelles Unrecht immer und überall anzuprangern, egal welches Unrecht und egal, ob persönliche Bezüge bestünden oder nicht. Es wurde allerdings auch eingeräumt, dass dies von einer unbeteiligten Position aus – die Rede war vom „Fensterblick“ – einfacher zu bewerkstelligen wäre als für Menschen, die auf die eine oder andere Weise involviert wären.

Insgesamt gab es zahlreiche Überschneidungen mit insbesondere zwei auch andernorts aufgeworfenen Fragestellungen: Zum einen mit der u.a. von dem israelischen Sozialphilosophen Moshe Zuckermann vertretenen These, wonach die Shoa in Israel „bis zum heutigen Tag dazu instrumentalisiert wird, die Leute nationalchauvinistisch zu stimmen“ (1); zum anderen mit der von Edward Said und anderen arabischen Intellektuellen in den letzten Jahren entfachten Debatte, wonach „die Welt das Leid der Araber erst zur Kenntnis nimmt, wenn die Araber in der Lage sind, das Leid anderer anzuerkennen, auch wenn sie unsere Unterdrücker sind“. (vgl. ak 473/474)

Wer nach diesem Vorlauf glaubte, das extra-meeting selbst würde einen ebenfalls turbulenten Verlauf nehmen, sollte sich getäuscht sehen. Bereits in der Vorstellungsrunde mit ca. 50 Leuten aus (ursprünglich) über zehn Ländern zeichnete sich ein weithin geteiltes Bedürfnis zur nicht-polarisierten Diskussion ab. Sinnbildlich verkörpert wurde diese Haltung durch drei TeilnehmerInnen: einen palästinensischen The-Voice-Aktivisten, einen in Deutschland studierenden Palästinenser sowie eine Aktivistin der israelischen NGO Physicians for Human Rights – Israel. Die Art, in der sich die drei das gesamte Treffen über die Bälle zuspielten, wurde von vielen als das eigentliche „Ereignis“ des gesamten extra-meetings empfunden. Es handelte sich um die praktisch gelebte und mittlerweile (wie berichtet wurde) selbst in Israel/Palästina zur absoluten Ausnahme gewordenen Alternative jenseits eingeschliffener Konfliktdynamiken aus Besatzungspolitik und Selbstmordanschlägen.

Auch die HauptakteurInnen selbst waren bewegt: So sind es aus Sicht des palästinensischen The-Voice-Aktivisten, der als Jugendlicher selber zwei Jahre im berüchtigten Wüstengefängnis Ansar III inhaftiert gewesen ist, genau derartige Begegnungen, die Not täten. Schließlich würden vielen PalästinenserInnen Israelis fast nur noch als SoldatInnen oder militante SiedlerInnen begegnen, seitdem Israel Anfang der 1990er Jahre mit seiner massiven und immer stärker perfektionierten Abriegelungspolitik begonnen habe.

Praktisch startete das Treffen mit zwei Inputs: Zum einen wurden die Debatten aus der Vorbereitungsgruppe geschildert, zum anderen berichtete die palästinensische Seite – mit spontaner Unterstützung durch die israelische Aktivistin – in einem Dia-Vortrag sowohl über die einzelnen historischen Etappen des Israel-Palästina-Konflikts als auch über die gegenwärtige Situation, insbesondere in den besetzten Gebieten. Auf dieser Grundlage wurde sodann in Groß- und Kleingruppen über unterschiedlichste Facetten des Konflikts diskutiert.

Einige aus Subsahara-Ländern stammende AktivistInnen berichteten, wie tief der christliche Glaube dort verankert wäre. Eine klare Parteinahme zu Gunsten von Israel sei deshalb absolut üblich; schließlich seien „die Juden“ das von Gott auserwählte Volk; sogar ein Gutteil der antiarabischen Stimmungen in diesen Ländern speiste sich hieraus. Ein im Lichte des christlichen Antijudaismus in Europa sicherlich bemerkenswerter Sachverhalt. In einem anderen Gesprächsfaden ging es um die Frage, inwieweit sich im Israel-Palästina-Konflikt ganz verschiedene Konfliktachsen kreuzen würden (jedenfalls in der Wahrnehmung vieler Menschen), mit der Konsequenz, dass dieser sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde als andere, insgesamt ungleich grausamere Konflikt wie z. B. in Ruanda bzw. im Kongo.

Schließlich wurde auch die von der palästinensischen Seite vertretene These diskutiert, wonach die große Zustimmung, die Selbstmordattentate in der palästinensischen Bevölkerung mitunter erhielten, keineswegs Zustimmung zur (religiös-islamistischen) Programmatik von Hamas oder Jihad bedeuten würde. Vielmehr sei dies überwiegend als Ausdruck der Verzweifelung und der Sehnsucht zu begreifen, dass überhaupt etwas passiere. Hass auf Israel (den es zweifelsohne geben würde) und Antisemitismus seien demnach keinesfalls dasselbe, so die palästinensischen AktivistInnen. Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang des öfteren auf positive Beispiele wie die jüdische Gemeinde in Nablus, mit der die PalästinenserInnen schon seit jeher in friedlicher Koexistenz lebten, selbst zu Zeiten der Intifada. Im Kern passten diese Beschreibungen gut zu dem, was auch jüdische Israelis regelmäßig berichten; etwa die bekannte Journalistin Amira Hass, die schon seit über zehn Jahren in den besetzten Gebieten lebt und immer wieder die offene und interessierte Haltung hervorhebt, der sie allenthalben begegnen würde. (2)

Im Laufe des Wochenendes fokussierte die gemeinsame Reflexion zunehmend auf die konkrete Besatzungspolitik in Gaza und im Westjordanland. Im Mittelpunkt stand das System der Abriegelungen, insbesondere seine Verschärfung seit dem Bau der so genannten (Sicherheits-)Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland. (vgl. ak 473) Dass die besetzten Gebiete durch Check-Points, gesperrte Straßen und Zaun- bzw. Mauerbau nach und nach in „geographische Zellen“ unterteilt werden und dass die 3.5 Millionen PalästinenserInnen nur in begründeten Ausnahmefällen überhaupt ihre Städte und Dörfer verlassen dürfen, wurde von vielen als ausgesprochen krass empfunden; nicht zuletzt im Hinblick auf die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen.

Politisch aufgeladen dürfte dieser Punkt im Rahmen des antirassistischen extra-meetings vor allem deshalb gewesen sein, weil ja die Einschränkung der Bewegungsfreiheit auch hier zu Lande eine große Rolle spielt: im Kampf sowohl gegen die Residenzpflicht als auch gegen das europäische bzw. globale Migrationsregime. In diesem Sinne passte es bestens, dass auch in Israel/Palästina der Kampf gegen das System der Abriegelung unter dem Motto For Freedom of Movement stattfindet.

Unterm Strich bestand Einigkeit darüber, dass die Besatzung in keiner Form zu rechtfertigen ist. Denn selbst wenn das Land 1967 als „Faustpfand für eine Friedensregelung“ okkupierte wurde, so wurde es für die israelische Politik schon bald zum „Objekt einer ideologischen, theologisch-religiös aufgeladenen Begierde“ (Moshe Zuckermann). Insgesamt mündeten diese Überlegungen in die Forderung ein, die Besatzungspolitik konkret zu kritisieren. Dem Versuch, die Kritik an der Besatzung mit einer antiimperialistischen Grundsatzkritik von Israel, Zionismus und Kapitalismus kurzzuschließen, wurde also eine Absage erteilt. Insofern schloss die Kritik an der Besatzung die unmissverständliche Kritik an Selbstmordanschlägen mit ein. Es wurde vereinbart, den Diskussionsprozess fortzusetzen; ob die bislang erzielten Übereinstimmungen auch genauerer Diskussion standhalten, bleibt indessen abzuwarten.

Olaf Bernau – alias Gregor Samsa

Anmerkungen:

1) Moshe Zuckermann, Zweierlei Israel, Hamburg 2003

2) Amira Hass, Gaza, München 2003