Lager schließen! 17-tägige Tour gegen Lagergesellschaft Deutschland
ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 485 / 18.6.2004
Nachdem sich der sommerliche Aktionskalender in den letzten Jahren regelmäßig durch ein Überangebot an Camp- und Gipfelmobilisierungen ausgezeichnet hat, geht es in diesem Jahr erheblich ruhiger zu. Hier zu Lande ist es lediglich die Anti-Lager-Action-Tour, die zu einer 17-tägigen Rundreise inklusive mehrerer Wochenendcamps mobilisiert.
Ziel der Anti-Lager-Action-Tour ist es, die Öffentlichkeit mit der Tatsache zu konfrontieren, dass allein in Deutschland ca. 600.000 Menschen gezwungen werden, ihr Leben jahrelang in mehr oder weniger großen Lagern zu fristen. Die Unterbringung in Lagern dient zusammen mit rassistischen Sondergesetzen wie z.B. der Residenzpflicht oder dem Arbeitsverbot der gezielten Isolierung, Kontrolle und Zermürbung unerwünschter Flüchtlinge und MigrantInnen. Auf diese Weise soll Widerstand gegen Abschiebungen – ob von innen oder außen – unterbunden bzw. gebrochen werden. Die Anti-Lager-Action-Tour macht sich demgegenüber für das uneingeschränkte Recht auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit stark. Sie fordert die sofortige Schließung aller Lager – nicht nur in Deutschland. Trotzdem sollen im Zuge der Tour auch unmittelbare Missstände angeprangert werden, etwa die vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter bereits im Jahr 2000 verurteilte Fesselung von Abschiebehäftlingen in einer so genannten Beruhigungszelle in Eisenhüttenstadt.
Die Tour startet am 20.8. mit einem viertägigen Camp in Bramsche/Osnabrück. In dem dortigen Abschiebelager leben 550 Menschen, vor allem Flüchtlinge, deren Asylanträge von den Behörden als aussichtslos eingestuft werden. Im Lager wird von Anfang an Druck auf die Flüchtlinge ausgeübt; sie sollen noch während ihres Asylverfahrens zur so genannten freiwilligen Ausreise gedrängt oder in die Illegalität getrieben werden. Die in Bramsche praktizierte Isolierung ist nahezu perfekt; so wurde erst jüngst eine lagerinterne Schule eingerichtet. Von Bramsche aus ist ein Tagesausflug zum Frauen-Abschiebeknast nach Neuss geplant; außerdem wird an einer gemeinsamen Aktion mit niederländischen AktivistInnen gebastelt. Am 25.8. ist die Tour in Hannover aktiv, sowohl am Abschiebeknast direkt beim Flughafen als auch bei der niedersächsischen, u.a. für Bramsche zuständigen Landesregierung. Am 26.8. wird es Aktionen in Halberstadt/Sachsen-Anhalt geben, wo auf dem Gelände der ZASt (700 Menschen) ein für 100 Menschen ausgelegtes Ausreisezentrum untergebracht ist. Vom 27.8.-31.8. schlägt die mit Bussen und PKWs reisende Tour ihre Zelte in Tramm/Mecklenburg-Vorpommern auf. In der dortigen, mitten im Wald auf einem ehemaligen Kasernengelände gelegenen Unterkunft leben 250 Menschen. Die InsassInnen bezeichnen das Lager als „Dschungelheim“, sie fordern schon seit längerem ihre Verlegung in die nächstgrößere Kreisstadt Parchim. Die Tour unterstützt diesen Kampf, auch durch Aktionen in Parchim und in der Landeshauptstadt Schwerin. Am 1.9. ist ein Gastspiel inklusive Aktionen in Berlin geplant. Vom 2.9.-5.9. campt die Tour in Eisenhüttenstadt, dort sind ZASt und Abschiebeknast auf einem Gelände untergebracht.
Organisatorisch wird die Anti-Lager-Action-Tour von zwei Strukturen getragen: Auf der einen Seite steht das bundesweite Tour-Bündnis, an dem die selbstorganisierten Flüchtlingsgruppen The Voice, Brandenburger Flüchtlingsinitiative und Karawane sowie antirassistische, autonome und feministische Zusammenhänge beteiligt sind. Auf der anderen Seite haben sich zusätzlich in Bramsche/Osnabrück, Tramm/Schwerin und Eisenhüttenstadt/ Berlin lokale Vorbereitungsbündnisse gebildet. Bemerkenswert ist vor allem, dass „refugee“- und „non-refugee“-AktivistInnen gleichermaßen stark an der Vorbereitung beteiligt sind.
Es hat sich also einiges getan, seit auf dem 5. Antirassistischen Grenzcamp in Jena (2002) grundlegend über die Notwendigkeit diskutiert wurde, das Verhältnis zwischen „refugee“- und „non-refugee“-AktivistInnen zu intensivieren. Innerhalb der Vorbereitung hat dies zu einer spannenden Debatte über die Frage des „Tour-Wirs“ geführt: Sollen eher die (von niemandem in Frage gestellten) Differenzen unter den AktivistInnen in den Vordergrund gestellt werden oder soll umgekehrt eher die Tatsache betont werden, dass sich mittlerweile in Sachen trans-identitärer Organisierung einiges getan hat, folglich auch die Übergänge zwischen „Innen“ und „Außen“ fließender geworden sind.
Eine weitere Debatte kreiste um die Frage, ob sich die Anti-Lager-Action-Tour nicht nur gegen die Lager als „konkrete Orte“ selbst wenden, sondern auch die Zusammenhänge zwischen Lagerregime im Besonderen und sozialen Ausschlüssen im Allgemeinen thematisieren sollte. ( vgl. ak 483) Die Frage ist nicht abschließend beantwortet worden, es scheint allerdings die leichte Tendenz vorzuherrschen, Brückenschläge vor allem dort vorzunehmen, wo sie sich tatsächlich anbieten; z. B. durch die Thematisierung, dass in Abschiebegefängnissen nicht zuletzt papierlose MigrantInnen einsitzen, die bei Razzien aufgegriffen werden.
Inwieweit es sich um ein eher offenes Feld mit vielen möglichen Querverbindungen handelt, wurde insbesondere bei einer Mobilisierungstour mit dem Filmemacher Enrico Montalbano deutlich, der im italienischen Anti-Lager-Widerstand aktiv ist: In seinen Filmen und Kommentaren beschäftigt er sich sowohl mit den gefährlichen und immer wieder tödlichen Flucht- bzw. Migrationsbedingungen, als auch mit dem Umstand, dass das italienische Lagerregime u.a. eine große Illegalisierungsmaschine ist, die (absichtsvoll) papierlose und entrechtete ArbeiterInnen für den irregulären Arbeitsmarkt „produziert“.
Last but not least: Die OrganisatorInnen gehen nicht davon aus, dass viele AktivistInnen die gesamte Tour mitfahren werden. Vor diesem Hintergrund wurden alle drei Camps auf Wochenenden gelegt. Mit anderen Worten: Auch Wochenend-AktivistInnen sind herzlich willkommen!
Olaf Bernau – alias Gregor Samsa
Infos zur Tour unter: www.nolager.de