Fight in progress. Anti-Lager-Action-Tour – Bilanz und Ausblick
ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 492 / 18.2.2005
Ein halbes Jahr ist es her, dass die Anti-Lager-Action-Tour 17 Tage lang mit Bussen und PKW durch mehrere nördliche und östliche Bundesländer gezogen ist (einschließlich dreier Aktionscamps) und gegen die zwangsweise Unterbringung von Flüchtlingen und papierlosen MigrantInnen in Heimen, Abschiebelagern und Knästen demonstriert hat.
Nicht nur die Tour selbst ist ein facettenreicher Mix äußerst unterschiedlicher Ereignisse, Abläufe und Dynamiken gewesen – mit insgesamt etwa 1.500-2.000 beteiligten AktivistInnen. Auch die Zeit danach hat sich durch hohes politisches Tempo ausgezeichnet: Erstens, weil mehrere an der Tour beteiligte FlüchtlingsaktivistInnen unmittelbar im Anschluss akut von Abschiebung bedroht waren (unter ihnen das bekannte Karawane-Mitglied Akubuo Chukwudi), zweitens, weil der Widerstand mindestens in einem der Lager direkt nach der Tour weitergegangen ist, drittens, weil am Ende der Tour ein beträchtlicher Schuldenberg stand und viertens, weil der überregionale antirassistische Terminkalender im letzten Jahresviertel ungewöhnlich voll gewesen ist – stellvertretend seien nur die von der Brandenburger Flüchtlingsinitiative maßgeblich mitorganisierte AntiColonial Africa Conference in Berlin und der spektakuläre Residenzpflicht-Prozess des The Voice-Aktivisten Ahmed Sameer in Erfurt genannt.
In der Summe hatte das zur Folge, dass seitens der Tour-Vorbereitung bis heute so gut wie keine individuellen oder gemeinsamen Auswertungstexte veröffentlicht wurden. Das ist zweifelsohne ein Manko, zumal mittlerweile bereits neue Aktionen im Rahmen eines europäischen Aktionstags am 2. April angedacht sind. In diesem Sinne möchten die hier angestellten Überlegungen Versäumtes nachholen, ihr Bezugspunkt sind die vier grundlegenden im Aufruf zur Anti-Lager-Action-Tour ursprünglich proklamierten Zielsetzungen.
a) Isolation unterwandern: Lagerpolitik ist Ausschluss durch Einschluss. Sie zielt im Kern zusammen mit rassistischen Sondergesetzen wie der Residenzpflicht oder dem Arbeitsverbot auf Separierung und Isolierung. Widerstand gegen Abschiebungen – vor allem von außen – soll auf diese Weise verunmöglicht werden. Eine zentrale Devise der Anti-Lager-Action-Tour lautete deshalb, durch praktische Schritte die politisch gewollte Isolation von Flüchtlingen bewusst zu unterwandern.
Realisiert wurde diese Devise am weitestgehenden auf der Ebene des Tour-Wir’s. Nicht nur in der Vorbereitung, sondern auch während der Tour ist dieses ein gemischtes gewesen, d.h., Flüchtlinge und Nicht-Flüchtlinge waren gleichermaßen vertreten. Von den beteiligten Flüchtlingen waren einige bereits in Flüchtlingsgruppen organisiert (vornehmlich in der Brandenburger Flüchtlingsinitiative, The Voice und der Karawane), andere sind erst im Zuge der Tour dazu gestoßen. Letzteres gilt insbesondere für InsassInnen aus dem inzwischen geschlossenen „Dschungelheim“ Tramm in Mecklenburg Vorpommern. In den Aktionen wurde die Isolationspolitik ebenfalls direkt attackiert: Immer wieder wurde versucht, unmittelbar an die Zäune der Lager heranzukommen und diese zu überwinden. Mancherorts haben die Zäune auch kleine Blessuren davongetragen (in Bramsche sind nächtens sogar 15 Meter Zaun abhanden gekommen); in Halberstadt sind etwa 150-200 Leute über den Zaun geklettert und haben zusammen mit ca. 50-70 InsassInnen der Zentralen Aufnahmestelle und des Ausreisezentrums auf dem Lager-Gelände demonstriert. Beim Abschiebeknast in Hannover ist die Demo am Ende sehr still geworden, wodurch ein Straßen-Fenster-Gespräch mit einigen Gefangenen ermöglicht wurde.
Dass die gezielte Unterwanderung von Isolation ins Mark herrschender Lagerpolitik trifft, ist natürlich auch den staatlichen Behörden nicht entgangen. Sie haben deshalb keine Mühen gescheut, das Isolationsregime auch während der Tour aufrechtzuerhalten. So wurde für sämtliche der von der Tour angesteuerten Lager ein komplettes Besuchsverbot erlassen. Das hatte seinerseits zur Folge, dass die Tour an jedem Lager von einem (mitunter übergeschnappt großen) Polizeiaufgebot in Empfang genommen wurde. Außerdem sind Flüchtlinge massiv eingeschüchtert sowie gezielt desinformiert worden. Im Abschiebelager Bramsche wurden etwa alle Flüchtlinge vor der Tour in größeren Gruppen zum Lagerleiter Bramm einbestellt. Dort wurde ihnen zwar freigestellt, an den Protesten der Tour teilzunehmen, es wurde aber eindringlich davon abgeraten; ja es wurden sogar ausdrücklich Urlaubsscheine für die Tage der Tour ausgestellt (in Abweichung von der ansonsten ja geltenden Residenzpflicht). Darüber hinaus wurde den InsassInnen in Bramsche von verschiedenen MitarbeiterInnen erzählt, dass es sich bei den Tour-AktivistInnen um Neonazis handeln würde, eine Lüge, die zumindest für Verunsicherung gesorgt hat.
b) Öffentlichkeit herstellen: Lager sind „Orte, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind“ – heißt es im Aufruf. Es müsse deshalb darum gehen, diese Orte aus ihrer Anonymität zu reißen; nur so könnten die Verhältnisse innerhalb der Lager (inklusive Widerstandspraxen) bekannt gemacht und mit den Protesten von außen öffentlichkeitswirksam kurzgeschlossen werden. In dieser Hinsicht hat die Tour so manches erreicht. Ablesbar war das nicht nur an der intensiven Berichterstattung in der jeweiligen Lokalpresse, sondern auch an mehreren Artikeln in überregionalen Zeitungen sowie fünf Fernsehbeiträgen in den Abendnachrichten der Dritten Programme. In Bramsche ist es mit Hilfe der (konservativen) Osnabrücker Zeitung außerdem gelungen, für einige Tage die Aufmerksamkeit auf den Umstand zu lenken, dass Bramsche mitnichten eine „Landesaufnahmestelle“ ist, wie es die großen Hinweisschilder bereits auf der Autobahn Glauben machen wollen, sondern ein regelrechtes Abschiebelager für 550 Menschen.
Aneignung des öffentlichen Raums
Dass es die Anti-Lager-Action-Tour streckenweise mit außergewöhnlich engagierter Berichterstattung zu tun hatte (inhaltliche Verkürzungen eingeschlossen!), dürfte nicht zuletzt mit dem Gegenstand Lager selbst zu tun haben: Lager sind konkrete Orte; die Gewaltförmigkeit rassistischer Verhältnisse materialisiert sich in ihnen auf krass sichtbare Weise – sichtbarer als z.B. bei Abschiebungen, von denen es gemeinhin kaum aussagekräftige Bilder gibt. Einmal an einem solchen, häufig mitten im nirgendwo gelegenen Ort angekommen, ist es gar nicht so einfach, sich diesem wieder zu entziehen. Das geht JournalistInnen nicht anders als anderen Menschen.
Die Behörden wissen um solche Effekte; sie sind deshalb während und nach der Tour mindestens drei Mal gegen kritische Berichterstattung in den Medien vorgegangen. Ihnen dürfte wahrscheinlich auch das Beispiel Bayern als Schreckgespenst im Nacken gesessen sein: Nachdem sich dort sogar die Kirchen kritisch zu Wort gemeldet hatten, musste nämlich die Landesregierung von ihren ursprünglichen Plänen wieder ablassen, in Bayern flächendeckend Abschiebelager, d.h. so genannte Ausreisezentren, einzuführen. Ausgangspunkt des dortigen Protests ist im übrigen die ausschließlich von der Karawane und anderen linken Gruppen getragene Kampagne gegen das Abschiebelager Fürth gewesen (vgl. www.ausreisezentren.de).
c) Selbstorganisierung unterstützen: Mehrere hundert Flüchtlinge sind im Zuge der Anti-Lager-Action-Tour auf die eine oder andere Weise aktiv geworden: Ob beim Protestfrühstück vor dem Tor in Bramsche oder in der afrikanischen Volksküche auf dem Camp in Crivitz/Tramm, ob auf Kundgebungen vor den Lagern oder an offenen Mikrofonen in den Innenstädten, ob durch punktuelle oder kontinuierliche Beteiligung, überall haben Flüchtlinge das Wort ergriffen, haben von alltäglichen Entrechtungserfahrungen und ihrem Widerstand dagegen berichtet. Nicht nur kurzfristig konnte so dem Lagerregime eine Praxis von Selbstbehauptung und Aneignung des öffentlichen Raums entgegengesetzt werden; zumindest in Parchim (wo die InsassInnen von Tramm mittlerweile leben) dauern die Proteste bis heute an – von den ohnehin aktiven Flüchtlingsselbstorganisationen ganz zu schweigen. Und doch: Es sollte nicht aus dem Blick geraten, dass die Behörden mit ihren repressiven Einschüchterungsstrategien durchaus erfolgreich gewesen sind. Bereits das riesige, in Bramsche und Tramm sogar auf dem Lagergelände selbst stationierte Polizeiaufgebot hat nicht wenige Flüchtlinge davor zurückschrecken lassen, sich der Tour anzuschließen. In diesem Sinne mag es zwar zutreffen, dass Widerstand ohne Inkaufnahme eines gewissen Maßes an Risiko nur schwer zu haben sei, wie insbesondere die betagteren FlüchtlingsaktivistInnen immer wieder betont haben; es sollte aber dennoch darüber nachgedacht werden, wie derartigen Situationen zukünftig (relativ) umsichtiger als auf der Tour begegnet werden könnte.
d) Handfeste Erfolge erringen: Die Kernforderung der Anti-Lager-Action-Tour war von Beginn an unmissverständlich: „Keine Lager, nicht hier und auch nicht anderswo!“ Erwartungsgemäß ist es im Zuge der Tour nicht zur Schließung irgendwelcher Lager gekommen. Erfolge konnten indes im Kleinen errungen werden, insbesondere in Bramsche. Dort hatten ja bereits in den Wochen und Monaten vor der Tour Flüchtlinge – vornehmlich tschetschenische Familien – eigene Proteste organisiert, unter anderem ist es zu zwei Torblockaden gekommen, die jeweils von einem regen Medienecho begleitet waren. Mit direktem Blick auf die bevorstehende Tour hatten sich die Behörden schließlich entschieden, den Forderungen der Familien zumindest teilweise nachzukommen. Die meisten von ihnen wurden noch vor der Tour auf private Wohnungen umverteilt. Dieser Erfolg ist nicht zu unterschätzen, auch wenn es aus Sicht der Behörden lediglich darum gegangen ist, das Konfliktlevel etwas herunter zu schrauben. Immerhin zeigt dieser Erfolg, dass die Behörden druckempfindlich sind – spätestens wenn sich lokale mit überregionalen Protesten zu verknüpfen drohen.
Am 2. April 2005 findet ein auf dem Europäischen Sozialforum in London beschlossener Aktionstag für „Bewegungsfreiheit“ und „Legalisierung“ statt. Das Anti-Lager-Tour-Netzwerk wird wohl mit von der Partie sein. Angedacht ist derzeit, einigen Lagern in Brandenburg die Aufwartung zu machen. In diesem Kontext gilt es außerdem, (praktische) Antworten auf diverse, zum Teil noch vom Sommer übrig gebliebene Fragen und Probleme zu finden:
- Viele AktivistInnen aus dem Anti-Lager-Tour-Netzwerk sind akut von Abschiebung bedroht. Es sind also in nächster Zeit erhebliche kollektive Anstrengungen erforderlich – als eine entscheidende Voraussetzung dafür, um überhaupt mit gemeinsamen Aktionen fortfahren zu können.
- Obwohl es eines der Top-Themen im Sommer gewesen ist, ist der von der Anti-Lager-Action-Tour vorgenommene Brückenschlag zwischen Lagerpolitik in Deutschland und der Diskussion über Lager in Afrika seinerzeit von den Medien schlicht ignoriert worden. Diese Scharte gilt es auszuwetzen, zumal die aktuelle Entwicklung in Libyen zeigt (vgl. ak 490), wohin die Reise in Sachen Lager gehen soll.
- Unter dem Titel „Sonst frisst der Löwe alle“ ist in der vierseitigen Zeitung der Anti-Lager-Action-Tour dargelegt worden, inwieweit die aktuelle Verschärfung des weltweiten Lagerregimes eng mit dem derzeit ebenfalls global forcierten Ausbau prekarisierter Arbeits- und Lebensverhältnisse verschränkt ist. Bedauerlicherweise hat sich diese Einsicht während der Tour noch nicht in entsprechenden Bündnissen niedergeschlagen. Das darf auf gar keinen Fall so bleiben!
- Während der Tour ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden – vor allem seitens der FlüchtlingsaktivistInnen – inwieweit es politisch angesagt sei, terminologische oder inhaltliche Bezüge zwischen derzeitigen Flüchtlingslagern und den Lagern der Nazis herzustellen. Die diesbezüglichen Debatten sind noch in vollem Gange.
Olaf Bernau – alias Gregor Samsa
Unter no_lager@yahoo.de kann die 173-minütige Tour-DVD gegen 5-10 Euro (oder Solispende) bestellt werden. Siehe auch: www.nolager.de