Linker Antirassimus im Spannungsfeld von Differenz und Gemeinsamkeit

Buchbeitrag: Interface (Hg.), WiderstandsBewegungen. Antirassismus zwischen Alltag und Aktion, Assoziation A 2005

Zwischen 1998 und 2003 war das Antirassistische Grenzcamp eine der angesagtesten Adressen linksradikaler Politik in Deutschland. Anfangs an der deutsch-polnisch-tschechischen Grenze, später im Landesinneren in Frankfurt/Main, Jena und Köln versammelten sich einmal jährlich bis zu 1000 AktivistInnen 10 Tage lang zum kollektiven Zelten unter antirassistischen Vorzeichen. Mit Aktionen, Workshops und Diskussionsveranstaltungen sollten nicht nur die rassistischen Verhältnisse vor Ort, sondern auch die politischen Beziehungen unter den CamperInnen selbst zum Tanzen gebracht werden. Insbesondere Letzteres gelang immer wieder bestens: Von Beginn an war das Grenzcamp ein Ort spannender, leidenschaftlicher und nervenaufreibender Auseinandersetzungen – meist mit Signalwirkung über die Grenzcamp-Community hinaus. So wurde zum Beispiel in den ersten Jahren unter dem Stichwort “Aufklärung vs. Provokation” intensiv darüber gestritten, wie sich im Angesicht eines überwältigenden und (scheinbar) konsensual verankerten Alltagsrassismus‘ auf die Bevölkerung in Ostdeutschland politisch bezogen werden sollte. In Frankfurt wiederum (2001) gab es unter anderem eine Debatte über die von einigen Grenzcamp-AktivistInnen initiierte Kampagne “Jeder Mensch ist ein Experte”: Während die einen hiermit ökonomische Argumentationsmuster im herrschenden Zuwanderungsdiskurs ironisch-subversiv durchkreuzen wollten, empfanden andere den Experten-Slogan als unkritisch, ja anbiedernd.

Dass das Grenzcamp 2003 in Köln endgültig zum Ende kam, hat nicht nur mit den berühmt-berüchtigten Bewegungszyklen linksradikaler Politik zu tun (auch wenn dieser Faktor nicht zu unterschätzen ist). Mindestens genau so wichtig dürfte ein Konflikt gewesen sein, der das Grenzcamp von seinen frühen Anfängen an begleitet hat: Bereits beim 2. Grenzcamp in Zittau 1999 stießen AktivistInnen von der Flüchtlingsselbstorganisation The Voice dazu. Hieraus haben sich in den folgenden Jahren mehrere Auseinandersetzungstränge entwickelt: Zum einen zeichneten sich bereits früh erhebliche politische, soziale und persönliche Differenzen zwischen FlüchtlingsaktivistInnen (unter anderem von The Voice) und verschiedenen deutsch-weißen AktivistInnen ab. Zum anderen entbrannte unter Nicht-Flüchtlingen eine Debatte darüber, inwieweit linker Antirassismus – zumindest von deutsch-weißer Seite aus – immer schon gemischt organisiert sein sollte (was im Kontext der Grenzcamps vor allem hieß: gemischt “Flüchtlinge/Nicht-Flüchtlinge”). Spätestens seit dem Frankfurter Grenzcamp hat dieses Konfliktgeflecht immer stärker das übrige soziale und politische Geschehen auf den Grenzcamps dominiert, mitunter auch blockiert. In diesem Sinne wurde verschiedentlich die These formuliert, dass das Grenzcamp letztlich an seinen inneren Widersprüchen gescheitert sei. Im Folgenden möchte ich einerseits den Prozess dieses Scheiterns zumindest in seinen Grundzügen transparent machen. Andererseits möchte ich in Stichworten den gemeinsamen, die inneren Grenzen produktiv aufsprengenden Organisierungsprozessen von Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen nachgehen, welche im Rahmen der Grenzcamps initiiert wurden und welche mit der 17-tägigen Anti-Lager-action-Tour im Sommer 2004 ihren zweiten großen Kristallisationspunkt jenseits der Antirassistischen Grenzcamps gefunden haben.

Konflikt-Etappen

Beim 3. Grenzcamp 2000 in Forst wurde The Voice in einer an das gesamte Grenzcamp gerichteten E-Mail von einigen Leuten aus Weimar aufgefordert, Stellung zu einem sexistischen Übergriff zu beziehen, der kurz zuvor seitens eines von The Voice mobilisierten Flüchtlings auf einem Antifa-Camp in Weimar begangen wurde. Außerdem wurde The Voice angehalten, “solche Übergriffe in Zukunft unmöglich” zu machen; andernfalls stünde die gemeinsame antirassistische Arbeit auf dem Spiel. Diese Forderungen hatten während des Grenzcamps erbitterte Debatten zur Folge, auch wenn sie letztlich von der Campmehrheit in einer gemeinsamen Stellungsnahme zurückgewiesen wurden: Indem erstens der Täter als „Flüchtling“ markiert würde und indem zweitens The Voice eine besondere Verantwortlichkeit hinsichtlich der Vermeidung sexistischer Übergriffe zugesprochen bekäme (nicht aber alle Männer in die anti-sexistische Pflicht genommen würden), erweckte die Weimarer E-Mail den Eindruck, Sexismus sei ein Spezialproblem schwarzer bzw. migrantischer Männer. Des Weiteren wurde kritisiert, die entschlossene Bekämpfung sexistischer Verhältnisse zur Voraussetzung gemeinsamer antirassistischer Kämpfe zu machen. Eine solche Strategie der Hierarchisierung von Herrschaftsverhältnissen ende zwangsläufig im Teufelskreis wechselseitiger Vorwürfe. Dass in Forst heftig gestritten wurde, hatte indessen nicht nur mit der e-mail selbst, sondern auch mit der mehrfach wiederholten Aussage von The Voice zu tun, wonach die Weimarer Intervention eine “antisexistische Verschwörung” sei, die darauf abziele, den antirassistischen Kampf zu untergraben. Dieses (vermeindliche) Unverständnis gegenüber der gesamten Problematik sexistischer Gewalt ist The Voice lange von vielen äußerst negativ angekreidet worden.

In Frankfurt (2001) waren die Flüchtlingsselbstorganisationen mit ca. 40 AktivistInnen erstmalig auch in größerer Zahl vertreten. Dennoch haben Flüchtlinge und Nicht-Flüchtlinge auf dem Frankfurter Grenzcamp ein Leben gleichsam in Paralleluniversen geführt: Politisch gab es kaum Bezugnahmen aufeinander, wobei viele der deutsch-weißen AktivistInnen noch nicht einmal in Ansätzen auf dem Schirm gehabt haben dürften, weshalb es in einer rassistischen Gesellschaft wie Deutschland für viele Flüchtlinge und MigrantInnen bereits eine ganz eigene Hürde darstellt, überhaupt an einem mehrheitlich deutsch-weiß zusammengesetzten Camp teilzunehmen. In sozialer Hinsicht ist die Situation in Frankfurt nicht weniger grotesk gewesen: Gegessen, geschlafen und gebadet wurde weitgehend getrennt; auf dem Abschlussplenum erklärten zwei Flüchtlingsaktivisten außerdem, dass sie es vorgezogen hätten, während des Camps keinen Kontakt mit weißen Frauen aufzunehmen, aus Angst, dies könne Sexismusvorwürfe nach sich ziehen. Insgesamt haben diese Erfahrungen einen äußerst faden Nachgeschmack hinterlassen. Die Flüchtlingsinitiative Brandenburg sprach in einem Nachbereitungspapier davon, dass “der größte Teil der deutschen Linken Rassismus und Ausgrenzung in Deutschland bagatellisiere und nicht wirklich ernst nehme”. Hierdurch sei in Frankfurt die “Kluft zwischen Flüchtlingen und Deutschen erneuert und verbreitert” worden.

Geknallt hat es im darauf folgenden Winter. Unter direkter Bezugnahme auf die Frankfurter Erfahrungen hatten unter anderem The Voice und die Brandenburger Flüchtlingsinitiative Jena als ‚Austragungsort’ für das nächste Grenzcamp ins Spiel gebracht. Das Hauptargument lautete, dass The Voice in Jena seine stärkste Verankerung unter Flüchtlingen hätte und dass eine Großveranstaltung wie das Grenzcamp eine günstige Gelegenheit darstelle, nicht nur den lokalen Flüchtlingswiderstand, sondern auch der Flüchtlingsselbstorganisierung im Allgemeinen den Rücken zu stärken. Der Jena-Vorschlag wurde von einigen Nicht-Flüchtlingsgruppen ebenfalls unterstützt, mit zum Teil jedoch anders ausgerichteter Argumentation: Danach sei Rassismus ein komplexes System fein abgestufter Ein- und Ausschlussmechanismen, welches auf Trennung, Entrechtung und Hierarchisierung abzielte. Die Auswirkungen hiervon seien auch auf dem antirassistischen Feld spürbar. Einerseits weil sich Flüchtlinge und Nicht-Flüchtlinge im Zuge staatlich ‚verordneter’ Seperation und Isolation (viele Flüchtlinge lebten mitten im Wald) häufig noch nicht einmal begegnen geschweige denn politisch, sozial und persönlich aufeinander beziehen könnten. Andererseits weil rassistische Ein- und Ausschlüsse mehr oder weniger subtil auch in linken Zusammenhängen wirksam wären. Linker Antirassismus müsse deshalb die vielfältig spürbaren Effekte rassistischer Trennungslogiken durch gezielte Kooperationsbemühungen zwischen Flüchtlingen, MigrantInnen und Menschen ohne Flucht- und Migrationshintergrund aufbrechen. Langfristig ginge es um die gemeinsame Schaffung eines trans-identitären bzw. hybridisierten Wir’s. Ein solches Wir müsse als offener Prozess verstanden werden; Ziel sei es, sich im (niemals auflösbaren) Spannungsfeld von Differenz und Gemeinsamkeit als durchlässiges und dennoch interventionsfähiges Subjekt zu formieren. Allein: Bei relativ vielen Gruppen aus der Grenzcamp-Community stieß der Jena-Vorschlag auf offene Ablehnung. Zum einen sei Jena als Ort unattraktiv, es wurde deshalb Hamburg als Alternative ins Rennen geschickt. Zum anderen leiste die in Jena geplante Konzentration auf Flüchtlingskämpfe einem “flüchtlingspolitisch verkürzten Antirassismus” Vorschub. Der Blick fürs Ganze ginge verloren, stattdessen drohe das aus antirassistischer Arbeit hinlänglich bekannte und nicht selten als karitativer Paternalismus daherkommende Unterstützungs-Kleinklein. Als Ort radikaler Gesellschaftskritik hätte das Grenzcamp damit ausgedient. Des Weiteren sei die Schaffung eines trans-identitären Wirs als programmatische Zielsetzung falsch. Beim gemeinsamen Politik-Machen käme es einzig auf gemeinsame Interessen an, solche könnten aber nicht künstlich herbeidiskutiert werden. Untermauert wurde diese Ablehnung außerdem durch massive Kritik an The Voice. AktivistInnen von The Voice agierten schon seit Jahren machtorientiert und strategisch. Sie instrumentalisierten das schlechte Gewissen linker AntirassistInnen, einzig um “KampagnensoldatInnen” – so das mittlerweile geflügelte Wort, für ihre Projekte zwangsrekrutieren zu können.

Auf einem reichlich verkorksten Treffen fiel am Ende die Wahl doch noch auf Jena. Die Hamburg-BefürworterInnen kündigten daraufhin ein eigenes, gegen Rechtspopulismus und autoritäre Formierung ausgerichtetes “Land-in-Sicht-Camp” an. Zu ihrer hellen Empörung bezeichnete The Voice diese Abspaltung später als “rassistisch”. Mit der handfesten Distanzierung von flüchtlingspolitischen Anliegen wäre ein Trennungsstrich genau dort gezogen worden, wo ihn auch die herrschende Flüchtlingspolitik ziehe; außerdem sei hierdurch der ohnehin fragile Flüchtlingswiderstand einmal mehr isoliert und somit geschwächt worden. Ebenfalls rassistisch seien laut The Voice viele Bilder gewesen, mit denen in der aufgepeitschten Auseinandersetzung operiert worden wäre. So sei mehrfach die Behauptung aufgestellt worden (quasi spiegelverkehrt zum KampagnensoldatInnen-Vorwurf), dass weiße AntirassistInnen in der Hamburg-Jena-Debatte Flüchtlinge manipulativ vor ihren Karren gespannt hätten; hierdurch seien FlüchtlingsaktivistInnen zu willenlosen und handlungsunfähigen Marionetten herabgewürdigt worden.

Die meisten dieser Differenzen, Vorwürfe und Konflikte konnten nie geklärt bzw. ausdiskutiert werden. Eskalative Konfliktdynamiken haben das verhindert. Auch beim 6. Grenzcamp 2003 in Köln, wo erklärtermaßen der abermalige Versuch unternommen werden sollte, die verschiedenen Lager zusammenzuführen, stand am Ende der kommunikative Kollaps.

Unterwegs zur intensivierten Kooperation

Anfang 2002 – die Jena-Hamburg-Trennung war schon besiegelt – ist das erste extra-meeting über die Bühne gegangen. Gemäß der Devise ‚intensivierter Kooperation’ wurde ein zusätzliches, d.h. ein extra-Treffen einberufen, auf dem sich Flüchtlinge- und Nicht-Flüchtlinge ohne Zeit- und Organisationsdruck insbesondere über ihre unterschiedlichen politischen und sozialen Ausgangspunkte ausgetauscht haben. Mittlerweile sind die extra-meetings mit 60-80 TeilnehmerInnen pro Treffen zu einem Selbstläufer geworden (alle 4 bis 5 Monate eineinhalb Tage lang). Etwa die Hälfte der Beteiligten kommen aus selbstorganisierten Flüchtlingsgruppen, die andere Hälfte kommt aus (überwiegend deutsch-weiß zusammengesetzten) autonomen, antirassistischen und feministischen Zusammenhängen. Diskutiert werden vor allem solche Themen, die sich im Rahmen der gemeinsamen Organisierung als kompliziert oder konfliktträchtig entpuppt haben – zum Beispiel ‚Umgang mit sexistischen Übergriffen’‚Verhältnis zur Nation’ oder der ‚Israel-Palästina-Konflikt’. Die extra-meetings waren von Anfang an eng mit praktischen Projekten verschränkt – konkret: mit den beiden Grenzcamps in Jena und Köln, den Aktionstagen gegen das Ausreisezentrum in Fürth (2003) und der Anti-Lager-action-Tour (2004). Diese Verschränkung stand nie zur Debatte; sie ist unter den beteiligten AktivistInnen stets elementares Selbstverständnis gewesen. Einiges von dem, was sich im Zuge dieser gemeinsamen Organisierungsprozesse zwischen 2002 und 2004 entwickelt hat, möchte ich nunmehr stichpunktartig vorstellen.

a) Die einfachste und grundlegendste Entwicklung dürfte darin bestehen, dass seit Anfang 2002 viele AktivistInnen – ob mit oder ohne Fluchthintergrund – die Chance wahrgenommen haben, sich wechselseitig als konkrete Persönlichkeiten kennenzulernen. Fremdheit und Anonymität als Effekte rassistischer Isolationstionspolitik konnten so unterwandert werden. Erstmalig konnten sich individuelle Nähen und Distanzen, Differenzen und Gemeinsamkeiten als Ausdruck gemeinsamer sozialer Prozesse einstellen. Neben persönlichen Beziehungen ist hieraus insbesondere die Anti-Lager-action-Tour als gemeinsames politisches Projekt hervorgegangen.

b) Mit zunehmender Breite und Intensität der Kooperation ist auch die Themenpalette ständig größer geworden, mit der es die neue Allianz (potentiell) zu tun hat: Thematisch hinzugekommen sind erstens die diversen Herkunftsländer vieler Flüchtlinge nebst historischer und aktueller Verflechtungen mit Europa, zweitens unterschiedliche Ansichten und Wertigkeiten vor allem zwischen Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen hinsichtlich grundlegender Dinge wie Verwandtschaft und Familie, Religion, Geschlechterverhältnisse, Nation, Homosexualität, etc. und drittens unterschiedliche Stile politischer Organisierung und Kommunikation – ebenfalls vor allem zwischen Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen.

c) Praktisch hat sich die intensivierte Kooperation auf verschiedenen Ebenen bemerkbar gemacht: Zum einen ist Zwei-Sprachigkeit auf den Treffen und Plena als Grundprinzip etabliert worden (inklusive Übersetzungsecken in weitere Sprachen). Die Notwendigkeit, sich zumindest auf englisch halbwegs artikulieren zu können, ist für viele (deutsche) AktivistInnen eine anfangs zwar große, meist jedoch erfolgreich gemeisterte Herausforderung gewesen. Zum anderen sind die Verantwortlichkeiten in Sachen Infrastruktur mehr und mehr gleichberechtigt zwischen Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen aufgeteilt worden, auch wenn unterschiedlicher Zugang zu Ressourcen (insbesondere zu Geld, Computern und deutscher Sprache) ein entsprechendes Gefälle nie wird gänzlich verhindern können. Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass es nicht zuletzt Aktivisten von The Voice gewesen sind, die sich nicht nur an der Rassismus/Sexismus Awareness-Gruppe während der Anti-Lager-action-Tour (2004) beteiligt haben, sondern auch an der “Ansprechgruppe im Falle sexistischer Übergriffe” in Köln und Fürth (beides 2003). Politisch ist das wichtig, weil ja diesbezügliche Auseinandersetzungen unter anderem auf dem Grenzcamp in Forst (s.o) bei vielen Nicht-Flüchtlingen ein gerütteltes Maß an Misstrauen gegenüber The Voice hinterlassen hatten.

d) Im Zuge der intensivierten Kooperation haben viele AktivistInnen ohne Fluchthintergrund deutlicher als je zuvor erfahren, was es heißt, als (politisch aktiver) Flüchtling in Deutschland leben zu müssen. Denn das eine ist, um rassistische Schikanen zu wissen, das andere, diese auch hautnah, ja live mitzuerleben. Konkret hatte das zwei Konsequenzen: Zum einen haben zahlreiche Nicht-Flüchtlinge in sich die Tendenz entdeckt, ihre antirassistische Praxis zunehmend als handfeste, d.h. existentiell aufgeladene Widerständigkeit zu erleben, und nicht mehr so sehr als sommerlichen Polittourismus, wie auf den Grenzcamps gemeinhin geschehen. Zum anderen hat sich ein ganz eigenes Solidaritätsverständnis herausgeschält: Dort, wo sich Menschen auf gleicher Augenhöhe zusammenschließen, verliert die Unterscheidung von Innen und Außen an Bedeutung. Das Interesse der anderen wird zum eigenen Interesse – und umgekehrt. Für karitativen Paternalismus gibt es unter solchen Umständen kaum noch Platz. Denn sobald die eigene Genossin von Abschiebung bedroht ist (was allerdings voraussetzt, dass Flüchtlinge und Nicht-Flüchtlinge GenossInnen werden), schließen sich politischer Anti-Abschiebekampf, persönlicher Wunsch und konkrete Solidarität kurz.

e) Der Prozess intensivierter Kooperation hat auch experimentelle Räume eröffnet: So ist mit blue & silver (blaue Overalls, Puschel, afrikanische Trommelrhythmen, mehrsprachige Protestslogans und afrikanisch-europäische fighting-songs) ein schillerndes cross-over aus afrikanischer Demokultur und geschlechter-subversiven pink & silver-Praktiken entstanden. Bemerkenswert ist dieses cross-over auch deshalb, weil es auf die Wahlverwandschaft verweist, die zwischen dem Versuch, Geschlechtergrenzen aufzusprengen und dem Projekt intensivierter bzw. trans-identitärer Kooperation besteht. Im übrigen wurde das gemeinsame Auftreten in blauen Overalls von einem Aktivisten der Brandenburger Flüchtlingsinitiative als (öffentlichkeitspropagandistischer) Ausdruck davon interpretiert, dass unter den AktivistInnen der Anti-Lager-action-Tour ‚irgendetwas’ fundamental anders läuft – nämlich wider bzw. quer zur herrschenden Sichtweise, wonach (schwarze) Flüchtlinge und (weiße) Nicht-Flüchtlinge völlig verschiedenartig Personenkreise wären und deshalb auch keine gemeinsame Gruppe formen könnten.

f) Ein Spannungsverhältnis, welches bereits in den unterschiedlichen Begründungsstrategien zugunsten eines Grenzcamps in Jena deutlich geworden war (s.o.), ist in den letzten Jahren nicht kleiner geworden: Während die an der intensivierten Kooperation beteiligten Nicht-Flüchtlinge der programmatischen Idee gemischter Organisierung mehr oder weniger Priorität einräumen (egal wie die tatsächlich gelebte Realität aussehen mag), ziehen die AktivistInnen mit Fluchthintergrund in Gestalt der Flüchtlingsselbstorganisierung immer noch an einem zweiten, nicht weniger wichtigen Strang. Bemerkenswerterweise sind bislang die hiermit verknüpften Fragen hinsichtlich ‚Identitäten’ sowie ‚identitärer Strategien’ noch nicht Gegenstand gemeinsamer Reflexionen geworden. Das heißt, es besteht keine Klarheit darüber, ob Flüchtlings- und MigrantInnen-Selbstorganisierung stets eine eigene Rolle spielen muss (zusammen mit gemischter Organisierung), oder ob die antirassistische Linke nicht insgesamt zu einem Schmelztiegel aller Teilidentitäten werden sollte.

Last but not least: Es sollte auf keinen Fall in Vergessenheit geraten, dass viele der hier zur Sprache gekommenen Abläufe in ähnlicher Form bereits zu anderen Zeitpunkten stattgefunden haben – etwa während der ersten Karawane 1998 oder in autonomen FrauenLesben-Zusammenhängen Anfang der 1990-er Jahre. Insofern dürfte es eine äusserst spannende Angelegenheit sein, die Erfahrungen innerhalb der jeweiligen Projekte systematisch miteinander zu vergleichen.

Blick nach vorn

Ein immer wieder gegen das Projekt intensivierter Kooperation vorgebrachter Einwand lautet, dass dieses zu sehr die Unterschiede zwischen Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen betone und dadurch ein Überschreiten der Trennungslinien wider Willen erschwere bzw. verunmögliche. Prinzipiell ist das zweifelsohne ein gewichtiges Argument; allein es geht an der Realität der hier geschilderten Prozesse meilenweit vorbei. In diesem Sinne sei auch angemerkt, dass die in dem Einwand stets als Alternative mitschwingende Unterstellung, wonach diejenigen, die gemeinsame Interessen hätten, schon von selbst zusammenfänden, absurd wenn nicht weltfremd ist. Denn nur, wo die durch rassistische Isolationspolitik errichteten Grenzen gezielt unterwandert werden, entsteht überhaupt die Möglichkeit, praktisch herauszufinden, ob es gemeinsame Interessen gibt oder nicht. Nichts anderes ist in den letzten Jahren passiert; und das mit durchaus handfesten Ergebnissen. Ob die neue Allianz bereits als trans-identitär bezeichnet werden sollte, sei dahingestellt. Klar ist indessen, dass unter den beteiligten AktivistInnen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf politischer, sozialer und persönlicher Ebene ‚entdeckt’ bzw. herausgebildet werden konnten . Im Lichte der Konflikte auf den Grenzcamps ist das bereits ein gewaltiger Schritt nach vorne. All das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich insgesamt um ein äußerst fragiles Gebilde handelt. Einerseits ist die Zahl der beteiligten AktivistInnen nicht sonderlich groß. Andererseits sind die Rahmenbedingungen absolut ungünstig – das beginnt bereits damit, dass viele Flüchtlinge in Lagern mitten im Nirgendwo untergebracht sind (ohne Internet, Festnetzanschluss und regelmäßige Verkehrsanbindung), während die Mehrzahl der Nicht-Flüchtlinge in den einschlägig bekannten Städten lebt. Soll also das Projekt einer intensivierten Kooperation weiterhin Zukunft haben, muss es schnell auf zahlenmäßig breitere Füße gestellt werden, was wohl auch mit thematischen und personellen Brückenschlägen hin zu anderen Teilbereichsbewegungen einhergehen müsste.

Olaf Bernau – alias Gregor Samsa