Internationalistische Praxis nach dem Internationalismus
»Herrschaft und Gewalt wurden immer seltener im globalen Zusammenhang betrachtet« – Interview mit Olaf Bernau
Interview mit der antifaschistischen Zeitung Phase 2 zu Internationalismus (August 2010)
Phase 2: Von Ende der Sechziger bis in die Achtziger hinein, gab es in Europa eine starke internationale Solidarität mit verschiedenen Befreiungsbewegungen als Trägerinnen des revolutionären Kampfes außerhalb der Metropolen. Als Teil einer globalisierungskritischen Linken seht Ihr Euch in der Tradition eines linken Internationalismus, der mit den Jahren an politischer Wichtigkeit verloren hat. Was ist Euer Begriff von Internationalismus?
Olaf Bernau: Bei allen Irrungen und Wirrungen steht für uns fest, dass der Kollaps internationalistischer Praxis nach 1989 ein handfestes politisches Desaster war – und das aus mindestens drei Gründen: Erstens weil Herrschaft und Gewalt immer seltener im globalen Zusammenhang betrachtet wurden. Problematisch war insbesondere, dass ein empirisch unterfüttertes Verständnis für das Wechselspiel zwischen gelingender Kapitalakkumulation in den Zentren und aggressiver Peripherisierung ganzer Weltregionen zunehmend Flöten gegangen ist. Aber auch konkrete, unmittelbar damit verknüpfte Themen wurden Schritt für Schritt marginalisiert bzw. stillschweigend an NGOs delegiert – ob Hunger, Verschuldung oder fehlende Gesundheitsversorgung. Zweitens weil Emanzipation und Widerstand nur noch vereinzelt als ein notwendigerweise in transnationalen Organisierungsprozessen verankertes Projekt bestimmt wurden.
Schlimmer noch: Die Vielfalt und Stärke sozialer Bewegungen im globalen Süden verschwand weitgehend von der mentalen Landkarte, auch unter Bündnisgesichtspunkten – hinzu kam, dass viele der in den 1970er und 1980er Jahren entstandenen Kooperationen zwischen südlichen und nördlichen Basisinitiativen eingeschlafen sind. Drittens weil die oftmals apokalyptisch anmutenden Existenzbedingungen in der Peripherie kaum noch als Skandal geschweige denn Handlungsaufforderung begriffen wurden – weder intellektuell noch emotional. Im Gegenteil: Internationalistische bzw. globale Soldarität wurde immer öfter als karitativer Schmarren, regressive Kapitalismuskritik oder romantisierende Lobhudelei nationalistischer Befreiungsbewegungen denunziert. Und das nicht zuletzt mit der Konsequenz, dass die jahrzehntelang heiß diskutierte Frage zunehmend ins Abseits geraten ist, inwiefern es aus Gründen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit geradezu zwingend ist, den materiellen Lebensstandard im globalen Norden massiv abzusenken und umgekehrt eine grundlegende Neubestimmung dessen vorzunehmen, was unter einem gutem Leben und somit gesamtgesellschaftlicher Entwicklung als solcher zu verstehen ist.
Phase 2: Aber wie würdet ihr Euch in dieser Tradition verorten, die ja berechtigterweise auch zunehmend in die Kritik geraten ist?
Olaf Bernau: Wenn es um die Internationalismus-Bewegung geht, sollte nicht aus dem Blick geraten, dass es sich zu keinem Zeitpunkt um ein homogenes Gebilde gehandelt hat: Zu berücksichtigen ist nicht nur, dass es stets unterschiedliche, sich vielfältige überlappende Strömungen gegeben hat – von AntiimperialistInnen unterschiedlicher Coleur über Moskau-treue TraditionskommunistInnen, die Kirchen, das BUKO-Spektrum bis hin zu autonomen bzw. sozialrevolutionären Strömungen, letztere vor allem im Rahmen der Mobilisierung gegen den IWF-Gipfel 1988 in Berlin. Nein, wichtiger dürfte sein, dass bereits der klassische Internationalismus diverse Selbstreflektions- und Häutungsprozesse durchlaufen hat: Da gab es zunächst einmal den „Alten Internationalismus“ der 1960er und 1970er Jahre, dessen ideelles Zentrum die überwiegend manichäisch aufgeladene Bewegung gegen den Vietnam-Krieg gewesen ist. In den 1980er Jahren folgte der „Neue Internationalismus“, der sich bereits als Reaktion auf die ärgsten Irrtümer und Abgründe internationalistischer Solidarität herausgebildet und oft zu völlig neuen Konzeptionen und Strategien geführt hat – ob in der Nicaragua-Solidarität, den Kampagnen gegen das Apartheid-Regime in Südafrika oder bei thematischen Projekten wie der von der BUKO 1985 lancierten „Stoppt Futtermittel“-Kampagne. Viele der im neuen Internationalismus vorgenommenen Richtungsänderungen sind schließlich seit 1994 durch den Aufstand der Zapatistas in Mexico nochmal auf ein völlig neues Niveau gehoben worden – insbesondere durch ihre Weigerung, die Erringung staatlicher Macht als emanzipatorische Zielsetzung zu betrachten. Wir selbst fühlen uns zwar der gesamten internationalistischen Tradition verpflichtet, auch deshalb, weil z.B. in Afrika die Unterstützung antikolonialer, auf die Gründung eigener Nationalstaaten abzielender Befreiungsbewegungen historisch gleichsam alternativlos gewesen ist. Dennoch sollte es sich von selbst verstehen, dass im Jahr 2010 die von den Zapatisten propagierte intergalaktische Solidarität ungleich mehr emanzipatorische Anknüpfungspunkte bietet.
Phase 2: Eine maßgebliche Kritik am klassischen Internationalismus galt der Projektion gesellschaftlicher Veränderung in „revolutionäre Subjekte“ andernorts und die Identifikation mit den Opfern „imperialistischer“ Politik. Die antisemitisch motivierte Unterstützung der palästinensischen Befreiungsbewegung, bzw. eine Unterstützung des bewaffneten Widerstands im Irak zeigt die Problematik und Ideologie eines dualistischen antiimperialistischen Weltbildes am deutlichsten. Spielen Ideen eines klassischen antiimperialistischen Internationalismus in Eurer globalisierungskritischen Arbeit noch eine Rolle? Oder wurden diese von anderen „Welterklärungsmodellen“ wie der Multitude ersetzt?
Olaf Bernau: Wie schon angedeutet, die Liste der Fehler und Trugschlüsse ist sehr viel länger, als es eure Frage vermuten lässt: Weitere Schlagworte lauten etwa „Glorifizierung nationaler Befreiungsbewegungen“, „Fetischisierung des bewaffneten Kampfes“, „simplifizierende Gut-Böse-Weltbilder“, „Solidaritätshopping nebst mangelhafter Frustrationstolleranz“, „fehlender Bezug auf soziale Auseinandersetzungen im Norden“ etc. Insofern dürfte sich von selbst verstehen, dass klassische antiimperalistische Heransgehensweisen für uns keine Rolle spielen, so wie sie auch für große Teile der Internationalismusbewegung bereits in den 1980er Jahren ihre Anziehungskraft verloren haben – vor allem deshalb, weil ja die zum Teil monströsen Fehlentwicklungen in Ländern wie Vietnam, Kambodscha, Iran oder Mosambik hinreichend deutlich gemacht hatten, wozu scheinbar progressiv ausgerichtete Befreiungsbewegungen in der Lage sind – oft schon während des Befreiungskampfes, spätestens aber nach Erlangung der staatlichen Macht. Relevante Bezugsgrößen sind für uns vielmehr soziale Bewegungen: Rund um den Globus kämpfen Menschen um politische, zivile und soziale Rechte – sei es, dass sie sich für einen freien Zugang zu Land, Wasser, gesundheitlicher Versorgung, politischer Teilhabe etc. stark machen, oder sei es, dass sie sich gegen Privatisierungen, Freihandelsabkommen, Zulassung von gentechnisch manipuliertem Saatgut, Strukturanpassungsprogrammen etc. zur Wehr setzen, also gegen Maßnahmen, die gemeinhin eine Verschlechterung ihrer Situation darstellen. Hierbei macht es in unseren Augen keinen all zu großen Unterschied, ob es sich um politisch artikulierte Kämpfe, kollektive Selbsthilfe-Netzwerke oder individuelle Aneignungs- bzw. Überlebensstrategien handelt. Einerseits weil eine Verschiebung gesamtgesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ohnehin nur möglich ist, wenn die verschiedenen Kraftfelder in großem Stil zusammenwirken. Andererseits weil die diversen Facetten sozialer Kämpfe oftmals alles andere als trennscharf sind: Beispielsweise nehmen viele MigrantInnen durch ihren irregulären Grenzübertritt das Recht auf Bewegungsfreiheit de facto wahr und verschaffen so ihrem Anspruch auf Teilhabe unmissverständlich Geltung, dennoch ist nur eine Minderheit von ihnen an politischen Kämpfen für Bewegungsfreiheit und weitere Rechte beteiligt.
Phase 2: Lasst uns uns zu eurer Praxis kommen: Wie sieht diese konkret aus, seid ihr in praktische Projekte involviert?
Olaf Bernau: Im Februar haben wir zusammen mit über 40 Leuten das Afrique-Euro-Netzwerk ins Leben gerufen. Beteiligt waren AktivistInnen mit und ohne Flucht- bzw. Migrationshintergrund – viele von uns kannten sich bereits aus dem ehemaligen NoLager-Netzwerk sowie der antirassistischen Mobilisierung anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm. Erklärtes Ziel ist es, transnationale Organisierungsprozesse zwischen Basisbewegungen in Afrika und Europa aufzubauen bzw. zu intensivieren. Konkrete Anknüpfungspunkte sind einerseits Verbindungen zu migrationspolitischen Gruppen in Marokko, welche sich seit dem polyzentrischen Sozialforum 2006 in Bamako herausgebildet haben, andererseits eine seit etwa 2 Jahren laufende Kooperation mit der AME – der „Assoziation der Abgeschobenen Malis“. Unser erstes größeres Projekt wird Anfang 2011 die Beteiligung an einer zweiwöchigen, vor allem von der AME und anderen westafrikanischen Gruppen organisierten Bus-Karawane für Bewegungsfreiheit von Bamako/Mali nach Dakar/Senegal sein – mit dem 11. Weltsozialforum als letzter Etappenstation. Erwartet werden zwischen 200 und 400 TeilnehmerInnen, überwiegend aus afrikanischen Ländern. Geplant sind mehrere Aktionen, unter anderem gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex, zudem sollen öffentliche Versammlungen in Dörfern und Städten entlang der Strecke durchgeführt werden. Inhaltlich soll auf der Karawane dreierlei zur Sprache kommen: Erstens die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen, nicht zuletzt in den Transitländern. Zweitens strukturelle Hintergründe von Flucht und Migration, etwa die Zerstörung kleinbäuerlicher Landwirtschaft oder die Auswirkungen des Klimawandels. Drittens die Situation von afrikanischen Flüchtlingen und MigrantInnen in Europa – entlang von Stichworten wie Lagerpolitik, Abschiebungen, rassistische Polizeigewalt oder prekäre Arbeitsverhältnisse.
Phase 2: Das positive Ansinnen der antiimperialistischer Arbeit bestand darin, auf die Dominanz der westlichen Staaten gegenüber den so genannten Drittweltstaaten bzw. der Peripherie, die die politisch-ökonomischen Handlungsmöglichkeiten entscheidend einschränkte, aufmerksam gemacht zu haben. In Eurer politischen Arbeit scheinen nun Migrationspolitik und das Recht auf Bewegungsfreiheit als ein Zugang zur Thematisierung der gesellschaftlichen Situation in den jeweiligen Herkunftsländer zu dienen. Wie kam es zu dieser Schwerpunktverlagerung?
Olaf Bernau: Für viele Flüchtlinge und MigrantInnen ist die politische Beschäftigung mit der Situation in ihren Herkunftsländern absolut elementar. Erinnert sei nur an an den von selbstorganisierten FlüchtlingsaktivistInnen schon seit langem propagierten Slogan „Wir sind hier weil ihr unsere Länder zerstört“. Insofern hat es vor allem mit mangelnden Kapazitäten zu tun, dass diesbezüglich in den vergangenen 15 Jahren vergleichsweise wenig passiert ist – und natürlich mit der weitgehenden Nicht-Existenz globaler bzw. transnationaler Solidaritätspraxen. Um so erfreulicher ist, dass sich mittlerweile mit der Bamako-Dakar-Karawane ein praktischer Ankünpfungspunkt ergeben hat. Konkret erhoffen wir uns von der Beteiligung an der Karawane dreierlei: Erstens sind wir an wechselseitigem Informationsaustausch sowie einer gezielten Koordinierung der jeweiligen Kämpfe interessiert. Hintergrund ist, dass unsere Gegner schon lange global agieren – beispielsweise ist die europäische Grenzschutzagentur Frontex nicht nur vor den Küsten Westafrikas aktiv, sie überwacht auch sämtliche Grenzübergänge von Mali nach Mauretanien bzw. Algerien. Zweitens geht es uns um die Entwicklung gemeinsamer Visionen und Strategien, gleichsam als Voraussetzung dafür, zukünftig in größerem Stil gemeinsam handlungs- bzw. interventionsfähig zu werden. Drittens möchten wir ausloten, an welchen Punkten materielle und logistische Unterstützung die Kämpfe unserer BündnispartnerInnen zumindest punktuell stärken könnten.
Phase 2: Unserem Schwerpunkt liegt die Frage zugrunde, ob und wie sich eigentlich heute noch Kritik an globalen Herrschaftsverhältnissen in internationalen/transnationalen Bündnissen artikulieren lässt. Läuft man nicht immer Gefahr, in paternalistischen Fürsprache oder StellvertreterInnenpolitik abzudriften? Wie lassen sich partikulare politische Kämpfe, die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen resultieren überhaupt verbinden ohne sie zu vereinnahmen oder gleichzumachen? Ihr thematisiert ja selbst die Schwierigkeit, gesellschaftlich produzierte Unterschiede zu überbrücken und die Vielfalt der Erfahrungen einzubeziehen. Welche Probleme ergeben sich also in der Zusammenarbeit?
Olaf Bernau: Eigentlich haben wir ganz gute Erfahrungen gesammelt: Ob vergangenes Jahr beim Noborder-Camp auf Lesbos oder in NoLager- bzw. Bleiberechtskämpfen, immer wieder ist es gelungen, trotz erheblicher Unterschiede in der sozialen Ausgangssituation gleichberechtigte und stabile Beziehungen zu entwickeln. Das setzt allerdings voraus, offen mit Unterschieden umzugehen, also immer wieder Organisationsdruck und Tempo rauszunehmen und sich respektvoll auf die Realitäten des Gegenüber einzulassen. Denn nur so kann Vertrauen und langfristig gemeinsame Handlungsfähigkeit entstehen. Zudem sollte auch berücksichtigt werden, dass der Geldbeutel oder Pass nicht der einzige Maßstab für gleiche Augenhöhe ist. Genau so wichtig ist die Vielfalt unserer jeweiligen Erfahrungen. Denn sie ermöglicht so etwas wie Gleichheit in der unmittelbaren Kommunikation, vor allem wenn es um Fragen kollektiver Kämpfe oder Zukunftsgestaltung geht. Es würde insofern auch zu kurz greifen, transnationale Organisierung lediglich als bloße Notwendigkeit zu bestimmen. Vielmehr handelt es sich um spannende und horizonterweiternde Lernprozesse, also um die Herstellung hybrider Widerstandskulturen, was keineswegs mit hippiesker Esoterik verwechselt werden sollte!