Lokalradios contra Weltmarkt. Stichworte zur sozialen Situation in Mali
Beilage von Afrique-Europe-Interact in der bundesweiten Ausgabe der tageszeitung taz (23. Dezember 2010)
Mali ist zweifelsohne eine der schillerndsten, ja paradoxesten Gesellschaften innerhalb Westafrikas. Einerseits zeichnet sich das Sahelland durch ein offenes politisches Klima mit zahlreichen Basisorganisationen, lokalen Selbstverwaltungsstrukturen und unabhängigen Medien aus – stellvertretend erwähnt sei etwa die riesige Zahl von 150 lokalen Radiosendern, mehr als in jedem anderen afrikanischen Land. Andererseits belegt Mali auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen den 178. und somit fünftletzten Platz: 33 Prozent der Kinder unter 5 Jahren sind unterernährt, gerade mal 50 Prozent der Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser, die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 53 Jahre, 75 Prozent der über 15-Jährigen können weder lesen noch schreiben. Die Verhältnisse sind mit anderen Worten komplex, sicherlich auch deshalb, weil interne und externe Faktoren eine für die große Mehrheit der Bevölkerung fatale Gemengelage bilden.
Geburtsstunde des ’neuen‘ Mali war das Jahr 1991: Nach 23 Jahren Diktatur wurde der Präsident General Traoré in einem klassischen, vor allem von SchülerInnen und StudentInnen getragenen Volksaufstand gestürzt. Bereits seit 1989 war der Unmut über mangelnde politische Beteiligungsmöglichkeiten, über die klientelistische Plünderung der Staatskasse und über die von IWF und Weltbank aufgenötigten Strukturanpassungsprogramme (Kürzung der Sozialausgaben etc.) rasant angewachsen. Die anschließende juristische und politische Abrechnung mit der alten Garde war umfassend, seitdem gelten in Mali politische Rechte als hohes Gut: Die Wahlen sind frei, es gibt keine politischen Gefangenen, die Rede- und Versammlungsfreiheit ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – gewährleistet „Guten Tag, ihr korrupten Politiker! Guten Tag, ihr Diebe der öffentlichen Kassen! Guten Morgen, ihr Arbeitsscheuen!“ Derart markig begrüßt beispielsweise der populäre Radiomoderator Amidu Diarra die politische Elite in seiner allmorgendlichen Radio-Sendung. Womit bereits der Nagel auf den Kopf getroffen wäre: Demokratie in Mali ist eine tönernde Angelegenheit, die meisten MalierInnen fühlen sich wie Statisten: Im Parlament wird französisch gesprochen, was gerade mal 40 Prozent der Bevölkerung wirklich verstehen – während umgekehrt Bambara praktisch überall in Mali als Alltagsprache fungiert. Noch gravierender ist die Korruption, hier unterscheidet sich Mali nicht weiter von anderen Ländern Afrikas: Rund ein Drittel der Entwicklungsgelder fließen in private Taschen, Staatsbetriebe werden zu bizarr niedrigen Preisen privatisiert, Minen-Unternehmen im hochgradig profitablen Goldsektor genießen großzügige Steuererleichterungen – um nur drei Beispiele zu nennen.
Es kann also kaum verwundern, dass im Jahr 2003 das Parlament nicht befragt wurde, als der Dakar-Niger-Express auf Betreiben der Weltbank an das französisch-kanadische Konsortium Canac-Getma verkauft wurde. Die Folgen der Privatisierung der 1.259 Kilometer langen Schmalspurbahn zwischen Dakar und Bamako waren gleichwohl dramatisch: Entgegen vertraglicher Absprachen wurde der Personenverkehr zugunsten des Gütertransports massiv eingeschränkt. 632 gewerkschaftlich organisierte Eisenbahner verloren ihren Job, zudem wurden 26 von 36 Bahnhöfen dicht gemacht und somit ganze Dörf-Ökonomien entlang der Strecke dem Ruin preisgegeben. Bereits früh haben EisenbahnerInnen aus Mali und Senegal zusammen mit Bauern und Bäuerinnen, HändlerInnen und anderen Betroffenen das Bündnis für die Rückgabe und Weiterentwicklung des Schienennetzes Cocidirail gegründet. Durch zahlreiche Protestaktionen konnte die Privatisierung zwar zu einem innenpolitischen Topthema in Mali gemacht werden, handfeste Erfolge stehen aber noch aus.
Nicht minder problematisch sind die Entwicklungen im Baumwollsektor: Allein in Mali leben 3,4 Millionen Menschen von Einnahmen aus dem Baumwollexport. Gleichzeitig ist die Ertragslage hochgradig prekär. Denn die USA unterstützt ihre 25.000 Baumwollbetriebe mit 4,8 Millarden US-Dollar jährlich, wodurch die Weltmarktpreise um ca. 26 Prozent gedrückt werden. Konsequenz ist, dass die malische Exportgesellschaft CMDT die Baumwolle aus Mali nicht mehr gewinnbringend verkaufen kann und immer mehr Bauern und Bäuerinnen auf Mais oder Hirse umsatteln müssen – ein Umstand, der darüber hinaus auch bei der weiterverarbeitenden Industrie extrem negativ zu Buche schlägt (insbesondere bei der Herstellung von Pflanzenöl aus Baumwollsamen). Wir grotesk die globalen Machtungleichgewichte sind, zeigt eine simple Rechnung: Jeder US-Baumwoll-Farmer wird jährlich mit 100.000 Dollar subventioniert, eine Summe, für die ein Baumwollbauer in Mali etwa 1000 Jahre arbeiten müsste.
Ein jüngerer, ebenfalls im landwirtschaftlichen Sektor angesiedelter Konflikt ist der Ausverkauf afrikanischer Böden an global operiende Investoren – sei es für den Anbau von Export-Getreide oder von so genannten, klimapolitisch kontraproduktiven Agrotreibstoffen. Dick im Geschäft sind in Mali unter anderem lybische Unternehmen, Kleinbauernorganisationen sprechen bereits jetzt von massiven Landvertreibungen.
Spätestens vor dem Hintergrund solcher und vieler weiterer Problemkomplexe dürfte auch die enorme Bedeutung von Migration in Mali nachvollziehbar werden: Ein knappes Viertel der Bevölkerung – also 4 Millionen Menschen – befindet sich in der (Wander-)Migration, die meisten in westafrikanischen Nachbarländern, manche auch in Europa (vgl. Interview S. 3). Die darin zum Ausdruck kommende Selbstermächtigung ist für die Bamako-Dakar-Karawane genauso bedeutsam wie viele der hier (allenfalls) andeutungsweise zur Sprache gekommenen Kämpfe und Auseinandersetzungen.