Recht zu bleiben, Recht zu gehen. Interview mit Alassane Dicko (Bamako)
Beilage von Afrique-Europe-Interact in der bundesweiten Ausgabe der tageszeitung taz (23. Dezember 2010)
Was bedeutet Migration für Mali heute?
Familien ohne mindestens einen Angehörigen außerhalb Malis sind heutzutage selten. Migration ist die Hauptalternative für junge und in prekären Situationen lebende Menschen, die auf der Suche nach Möglichkeiten für ein besseres Leben sind. Privatisierung von Unternehmen und Landenteignungen stürzen Millionen Menschen in Unsicherheit über ihre Zukunft, das treibt sie erst recht an, über ein besseres Leben irgendwo anders nachzudenken.
Die AME kämpft nicht nur für Bewegungsfreiheit, sie plädiert auch dafür, dass die Menschen in Mali bleiben und dort für einen generellen Wandel der Gesellschaft kämpfen sollen. Ist das eine realistische Option?
Die Jugend von heute sollte sich an den Aktionen zur Veränderung in unserem Land orientieren, anstatt immer nur irgendwo anders hingehen zu wollen. Unsere Ziele basieren auf der Wertschätzung des Lokalen, des Individuums und der regionalen Produktion. Neben der Bewegungsfreiheit betonen wir auch das Recht zu bleiben, also die Möglichkeit, sich im eigenen Lande zu verwirklichen. Denn das ist der Punkt, an dem gegen die Globalisierung und Ungerechtigkeit gekämpft werden muss. Die Alternative soll nicht das Überleben in Armut sein, sondern der Kampf mit den jeweils eigenen Mitteln und Kapazitäten, um die Dinge voranzutreiben. Aber prinzipiell gilt: Jeder ist frei und soll gehen, wohin er will, das ist die Grundlage.
Nochmal zurückgefragt: Ist das realistisch, könnten die Menschen auf das Geld aus der Migration tatsächlich verzichten?
Sicherlich, viele befinden sich in einem Dilemma der Optionslosigkeit. Gleichzeitig haben die Familien begriffen, dass junge MigrantInnen nicht mehr die gleichen Werte haben wie die erste Generation. Anders als noch vor 10 Jahren wird weniger Geld nach Hause geschickt. Nach unseren Beobachtungen erwarten die Familien heute nicht mehr automatisch Geld von den MigrantInnen, denn sie sehen, dass sich die Einstellungen geändert haben und dass die Schwierigkeiten mit Papieren und Arbeit ebenfalls größer geworden sind, insbesondere durch die Weltwirtschaftskrise.
Wie beschreibt ihr Migration generell, handelt es sich auch einen Kampf um Beteiligung am globalen Wohlstand?
Wie ihr wisst, ist die Migration für uns Malier sozial recht stark verankert. Aufbrechen bedeutet, Anderem und Neuem zu begegnen, das heißt Entdeckungen zu machen, die den Menschen bereichern. Weggehen bedeutet für uns auch, immer schon die Rückkehr vorzubereiten, und sollte man nicht Gold mitbringen, dann sind es Erkenntnisse, die heimkehren. Aber es ist wahr, dass die Migration zugleich wie eine Antwort auf die Verzweiflung der Bevölkerung erscheint, die auf eine bessere Zukunft schaut. Gerade deshalb fordern wir soziale Gerechtigkeit und gerechte Entwicklung. Wir können «Nein» sagen und unsere Regierungen zum Einlenken zwingen, so dass unser Stück vom globalen Wohlstandskuchen zu Hause bleibt, anstatt dass unsere Brüder und Schwestern sich ins Ungewisse stürzen, um es woanders zu finden. Unser Kampf orientiert sich an der Kontrolle über unseren Kuchen und dessen Geschmack.
Hat sich die Haltung gegenüber Abgeschobenen durch eure Sensiblisierungskampagnen geändert, werden sie inzwischen seltener als Versager stigmatisiert?
In einem sozialen Umfeld, in dem man «das Reisen» schätzt, bleibt die Vorstellung, dass ein Familienmitglied «unter Zwang» zurückkommt, vor allem kulturell unverstanden. Das gilt um so mehr, wenn MigrantInnen große Investitionen in Immobilien in ihren Herkunftsländern tätigen. Denn dann werden sie wie Helden betrachtet, was bei anderen die Idee nährt, ebenfalls abwandern zu wollen. Unsere Sensibilisierungskampagnen bringen abgeschobene MigrantInnen mit Familien anderer MigrantInnen zusammen und fördern den Austausch ihrer Erfahrungen. So ist viel Verständnis für die Hintergründe und Auswirkungen von Abschiebungen entstanden.
Was bedeutet für dich die Forderung nach gerechter Entwicklung?
Mit dem Begriff der gerechten Entwicklung kritisieren wir die Einseitigkeit der angewandten Lösungen und Programme. Insbesondere lehnen wir es ab, dass Entwicklungshilfe an Voraussetzungen gebunden wird. Wenn man große Budgets für die Aufstockung der mobilen Einheiten zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung bewilligt und dann die Richtlinien und Gesetze verschärft, wie man ein Visum bekommt, und wenn es gleichzeitig kaum Möglichkeiten gibt, sich zu Hause verwirklichen zu können, muss man sich schon die Frage stellen, was wir eigentlich für eine Beziehung zur EU und anderen Aufnahmeländern haben? Unsere Regierung beteiligt sich an der Durchsetzung von Programmen, deren verstecktes Ziel es ist, die Interessenswahrung der Geldgeber zu fördern, und zwar zum Nachteil der eigentlichen Anliegen und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung in Mali. Das lehnen wir ab.
Was erwartet ihr von der Kooperation mit Europäischen AktivistInnen?
Die Solidarität zwischen uns führt den Regierungen vor Augen, dass wir durch internationale Mobilisierung im Stande sind, Druck aufzubauen und dass wir in Mali nicht von der Welt isoliert sind. Unsere Vorgehensweise hat darüber hinaus zum Ziel, die Wachsamkeit der Bevölkerung hier und in Europa zu wecken, auch indem wir informieren und kritische Gegenvorschläge entwickeln.
Alassane Dicko ist Aktivist bei der Assoziation der Abgeschobenen Malis und beteiligt sich an der Vorbereitung der Bamako-Dakar-Karawane. Er ist selbst dreimal abgeschoben worden, einmal aus der Elfenbeinküste 2005 und zweimal aus Europa.