Landgrabbing im Zeichen der Vielfachkrise
Luxemburg, März 2012
Spätestens seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 gehört es allenthalben zum guten Ton, von der Vielfachkrise zu sprechen, also die zahlreichen Verbindungslinien zwischen Klimakrise, Energiekrise, Finanzkrise und weiteren Krisendyanmiken ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Und doch: Das, was theoretisch längst begriffen ist, übersetzt sich bis heute viel zu selten in praktische Bündnisse zwischen den unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen bzw. bewegungspolitischen Akteuren. Auch der Bereich energiepolitischer Kämpfe ist hiervon keineswegs ausgenommen. Prominentes Beispiel ist etwa der in den letzten vier Jahren explosionsartig angewachsene Ausverkauf fruchtbarer (Acker-)Böden an Banken, Investmentfonds und Konzerne – eine Entwicklung, die nicht zuletzt mit der agrarindustriellen Produktion von Energie- bzw. Agrospritpflanzen zusammenhängt. Denn obwohl sich die Kämpfe gegen Landgrabbing, so der mittlerweile übliche Begriff, durch vielfältige Anschlussstellen auszeichnen, gibt es bislang lediglich punktuell Brückenschläge zu anderen Konfliktfeldern. Es lohnt also genauer hinzugucken. Nicht nur weil der Kampf gegen Landgrabbing hochgradig akut und daher dringend auf Bündnispartner angewiesen ist, sondern auch weil hiesige Energie- und Klimakämpfe von der Kooperation mit bäuerlichen Bewegungen im Süden programmatisch und strategisch enorm profitieren können.
Landgrabbing – eine kurze Bestandsaufnahme
Ob Pacht oder Kauf, es ist kein Zufall, dass in der politischen Arena nicht neutral von der Umnutzung großer Wald-, Agrar- und Weideflächen zugunsten kommerzieller Landwirtschaft die Rede ist, sondern polemisch von Landgrabbing bzw. Landraub. Denn gemeinhin erfolgt der Eigentümerwechsel zu grotesk günstigen Konditionen – hierzu gehören niedrigste Pachtzinsen bzw. Kaufpreise genauso wie jahrzehntelange Steuernachlässe („tax holiday“), Befreiung von Importzöllen für Baumaterialien oder geheime Vertragsabschlüsse ohne Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfung. Offiziell wird dies damit begründet, dass die Pächter bzw. Käufer mit ihren Investitionen einen allgemeinen Beitrag zur Entwicklung der Gastländer leisten würden. Diese Behauptung entpuppt sich indessen bei näherer Betrachtung als wenig stichhaltig, wie selbst die Weltbank mittlerweile eingeräumt hat. Denn der Bau von Kanälen oder Straßen dient in erster Linie dem Abtransport der agrarischen Rohstoffe, nicht aber der Entwicklung lokaler Ökonomien – von zusätzlichen Arbeitsplätzen auf den riesigen Plantagenkomplexen ganz zu schweigen. Geographisch findet 75 Prozent des Landgrabbing derzeit in Afrika statt, aber auch in Lateinamerika, Asien und Osteuropa boomt das Geschäft mit dem Acker. Hinzu kommt, dass 20 der 25 in Afrika und Asien betroffenen Länder zugleich Empfänger der Welthungerhilfe sind – darunter zahlreiche Staaten mit Bürgerkriegshintergrund oder autoritären bzw. korrupten Regierungsstrukturen wie zum Beispiel Äthiopien, DR Kongo, Süd-Sudan, Pakistan oder Kambodscha.
Als Investoren fungieren zum einen staatliche oder private Investmentfonds, zum anderen national bzw. transnational operierende Unternehmen, häufig aus dem Agrobusiness-Sektor. Entsprechend breit ist auch die Palette dessen, was auf den Flächen geschieht: Am häufigsten erfolgt mit 35,2 Prozent der Anbau von Energiepflanzen – dahinter steht die Entscheidung insbesondere der USA und der EU, den Anteil von Agrotreibstoffen durch so genannte Beimischungsquoten in den nächsten zehn Jahren massiv zu erhöhen. Ebenfalls bedeutsam ist Exportgetreide mit 32,4 Prozent („Offshorefarming“), hier sind vor allem Investmentfonds aus finanzkräftigen Ländern mit unzureichender landwirtschaftlicher Nutzfläche tätig, etwa aus China, Südkorea oder den Golfstaaten. Weitere Posten sind Forstwirtschaft mit 15,1 Prozent sowie Viehaltung, Schnittblumen oder exotische Früchte im jeweils einstelligen Prozentbereich1.
Investoren und Regierungen bemühen sich zwar, Landgrabbing als win-win-Situation darzustellen, Fakt bleibt aber, dass die Konsequenzen für die Mehrheit der betroffenen Kleinbauern und -bäuerinnen äußerst dramatisch sind. Denn es handelt sich keineswegs um leere oder ungenutzte Flächen, wie es immer wieder heißt. Vielmehr kommt es in großem Stil zu Vertreibungen ganzer Dörfer bzw. zum Durchzugsverbot für mobile Viehhirten – und somit zu Hunger, zur Zerstörung lokaler (Subsistenz-)Strukturen und zu erzwungener Migration. Zudem führt die agrarindustrielle Bearbeitung des geraubten Landes zu massiven ökologischen Schäden: Unter anderem zur Forcierung des Klimawandels, zu Biodiversitätsverlusten und zur Senkung der Fluß- und Grundwasserspiegel („Watergrabbing“) – alles Entwicklungen, von denen ihrerseits wiederum Kleinbauern und -bäuerinnen besonders stark betroffen sind.
Landgrabbing ist kein neues Phänomen. Das zeigt bereits ein kurzer Blick in die Geschichte des Kolonialismus. Ebenso sollten andere Ursachen von Landraub nicht aus dem Blick geraten, etwa Bergbau, Infrastrukturprojekte oder Tourismus. Dennoch drängt sich die Frage auf, weshalb es in den letzten Jahren zu einer Verzehnfachung der Landverkäufe gekommen ist. Beispielsweise sind allein zwischen Oktober 2008 und Juni 2009 weltweit mindestens 47 Millionen Hektar unter den Hammer gekommen – was einem Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der EU entspricht. Drei Aspekte scheinen ausschlaggebend zu sein: Zunächst gab es einen ohnehin steigenden Flächenbedarf durch Bevölkerungswachstum, Ernterückgänge im Zuge des Klimawandels und steigende Nachfrage nach Fleisch- und Milchprodukten. Sodann ist diese Entwicklung durch die Finanzkrise extrem dynamisiert worden, teils durch die reale Erfahrung spekulationsbedingter Preisschwankungen bei Grundnahrungsmitteln, teils durch freigesetztes Finanzkapital, das neue Anlagesphären gesucht hat (darunter zahlreiche Pensionsfonds). Schließlich sollte nicht aus dem Blick geraten, dass es sich um langfristige Prozesse handelt, deren Anfänge bereits in den 1990er Jahren liegen. Damals bemühten sich vor allem Weltbank und IWF darum, im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen neue (Land-)Rechtssysteme zu implementieren – quasi als strukturelle Voraussetzung der nunmehr mit Hochdruck forcierten Integration ländlicher Gebiete in den Weltmarkt (Stichwort: In-Wert-Setzung). Kurzum, dem pointierten Fazit von Uwe Hoering ist wenig hinzuzufügen, wonach Landgrabbing „gleichermaßen als Reaktion und als Lösungsstrategie eng in die multiple Krise der kapitalistischen Verwertung eingebunden“ sei2.
Auch Proteste gegen die Privatisierung kollektiv genutzter Flächen sind keineswegs neu. Erinnert sei nur an die zahlreichen Landbesetzungen der brasilianischen Landlosenbewegung MST oder den Umstand, dass der Aufstand der Zapatistas 1994 nicht zuletzt eine Reaktion auf die Abschaffung der verfassungsmäßig garantierten Unverkäuflichkeit von (Ejido-)Gemeindeland war. Entsprechend führt auch der aktuelle Boom immer wieder zu massiven Auseinandersetzungen mit Investoren und staatlichen Sicherheitskräften. Problematisch ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass die Verträge meist ohne Konsultation mit der lokalen Bevölkerung abgeschlossen werden. Denn hierdurch erfahren die betroffenen Kleinbauern und -bäuerinnen oftmals erst durch die anrückenden Bulldozer davon, dass ihr Land verkauft wurde. Um so wichtiger ist, dass mittlerweile auch international eine Koordinierung der zahlreichen meist lokal verankerten Proteste erfolgt. Erwähnt sei vor allem eine von dem weltweiten Kleinbauern-Netzwerk Via Campesina maßgeblich initiierte Konferenz im November 2011, zu der rund 250 Delegierte aus über 30 Ländern nach Nyéléni nahe der malischen Kleinstadt Sélegué gekommen sind.
Bäuerliche Kämpfe um Land
Die Entscheidung für das westafrikanische Land als Konferenzort fiel keineswegs zufällig. Ausschlaggebend war vielmehr, dass bäuerliche Organisationen aus Mali maßgeblichen Anteil daran hatten, Landgrabbing beim 10. Weltsozialforums in Dakar (2011) als zentrales Gegenwartsproblem sichtbar zu machen – mit dem von hunderten Organisationen weltweit unterzeichneten Dakar-Appell gegen Landgrabbing als konkretem Ergebnis3. In Nyéléni ging es daher auch darum, den in Dakar begonnenen Austauschsprozess unter praktischen Vorzeichen zu vertiefen. Dabei wurde vor allem deutlich, dass viele bäuerliche AktivistInnen ihre eigenen Regierungen als zentralen Gegner begreifen. Und das vor allem deshalb, weil die staatlicherseits verfügten bzw. sanktionierten Landenteignungen gemeinhin jeder gesetzlichen Grundlage entbehren. So sind es selbst im vergleichsweise demokratisch regierten Mali wahlweise der Präsident persönlich oder zwei eigens von ihm bestimmte Beamte, die ohne Kontrolle sämtliche Land(-grabbing)verträge abschließen – nicht einmal das Landwirtschaftsministerium ist eingebunden. Entsprechend wird in der Abschlusserklärung der Konferenz, welche als eine Art Blaupause für den globalen Widerstand gegen Landgrabbing gelesen werden kann, dreierlei ins Zentrum gerückt: Erstens Stärkung der materiellen Infrastruktur des kleinbäuerlichen Widerstands – nicht zuletzt mit Blick auf juristische Auseinandersetzungen, zweitens öffentlichkeitswirksamer Druck auf Investoren, Regierungen und Institutionen im Norden sowie drittens umfassende Bündnisarbeit, unter anderem zwischen Süd und Nord.
Programmatisch wurde sich in Dakar und Nyéléni auf das von Via Campesina seit 1996 schrittweise entwickelte Konzept der Ernährungssouveränität bezogen, welches zugleich eine umfassende Antwort auf die eng verzahnten Krisen der Ernährung, des Bodens und des Klimas darstellt. Denn Ernährungssouveränität zielt auf ein Ernährungssystem, in dessen Zentrum nicht Konzerninteressen, sondern der ungehinderte Zugang zu Land, Wasser und Saatgut für kleinbäuerliche ProduzentInnen steht. Es geht also um die Umstellung auf kleinbäuerliche und somit klimaschonende Landwirtschaft (bzw. deren Verteidigung) sowie die Dezentralisierung der Lebensmittelversorgung mit kurzen Versorgungsketten zwischen Produktion und Konsumtion. Interessant sind hieran nicht nur die zahlreichen Parallelen zu einer dezentralen Stromversorgung, die ebenfalls auf einem System kleiner Kraftwerke ohne lange Übertragungswege fußt. Inspirierend ist vielmehr auch, dass Dezentralisierung und Demokratie eng zusammen gehören, so wie es im Begriff der Souveränität bereits angelegt ist. Es ist daher auch kaum überraschend, dass für kleinbäuerliche Bewegungen konsensuale bzw. partizipative Kommunikation- und Entscheidungsprozesse oftmals zum alltäglichen Werkzeug gehören. Hinzu kommt, dass das Konzept der Ernährungssouveränität auch als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Strategie begriffen wird und insofern eine wichtige Herausforderung für AktivistInnen aus dem Norden darstellt, etwa wenn Vandana Shiva nicht ohne (genüsslichen) Hintersinn darauf hinweist, dass Kuba 1989 40.000 Traktoren durch 385.000 Ochsengespanne ersetzt hat.
Erwähnt sei schließlich noch, dass Migration im Widerstand gegen Landgrabbing geradezu omnipräsent ist – einfach deshalb, weil die Zerstörung kleinbäuerlicher Existenzgrundlagen notgedrungen mit Landflucht bzw. Migration einhergeht und deswegen, so der malische Via Campesina-Aktivist Ibrahima Coulibaly, einer gesamtgesellschaftlichen Destabilisierung Vorschub leistet. Es scheint insofern auch folgerichtig, dass das aus migrationspolitischen Kämpfen hervorgegangene Netzwerk Afrique-Europe-Interact im Frühjahr 2012 mit rund 30 afrikanischen und europäischen AktivistInnen ländliche Gemeinden in Mali besuchen wird, um so die Möglichkeiten gemeinsamer, transnational verankerter Aktivitäten gegen Landgrabbing auszuloten.
Brücken Richtung Norden
Landgrabbing weist vielfältige Verbindungen auf: Nicht nur zu Auseinandersetzungen rund um Bankenmacht, Migration oder Privatisierung, sondern auch zu energie- bzw. klimapolitischen Kämpfen, wie nunmehr an zwei Beispielen abschließend gezeigt werden soll:
Als (ideelle) Bündnispartner im Kampf um Land drängen sich zum einen all jene Projekte auf, die – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – für klimafreundliche und solidarische Mobilitätsformen eintreten, unter anderem das Bündnis „Bahn für alle!“, die zahlreichen Sozialticket- bzw. Umsonstinititiven oder diverse Fahrradclubs. Hintergrund ist, dass mit Agrosprit vor allem der automobile Individualverkehr mit all seinen desaströsen Konsequenzen aufrechterhalten werden soll, womit er sich ebenfalls als einer der vielen falschen bzw. widersprüchlichen Lösungen des grünen Kapitalismus entpuppt. Bemerkenswert ist hierbei insbesondere, dass Agrosprit selbst auf seinem (vermeintlich) ureigensten Feld versagt. Denn laut einer bislang unter Verschluss gehalten EU-Studie ist die Klimabilanz so genannter Biotreibstoffe insgesamt negativ, was vor allem mit indirekten Landnutzungsänderungen zu tun hat, also der Umwandlung von Wäldern, Grünland, Torfland und anderen üblicherweise als CO2-Senke fungierenden Ökosystemen in zusätzliche Ackerflächen. Als politischer Referenzpunkt drängt sich daher vor allem die EU-Biodieselrichtlinie auf, wonach die EU bis 2020 mit milliardenschweren Subventionen den Anteil an Agrotreibstoffen auf 10 Prozent erhöhen will (was ca. 15 Prozent ihrer Ackerflächen entsprechen würde), so wie die USA einen Anteil von 30 Prozent anstrebt, weshalb bereits heute ein Fünftel der US-Maisernte im Tank landet. Zum anderen sind die hierzulande durchaus breit aufgestellten Initiativen für eine andere Landwirtschaft der zweite gleichsam natürliche Bündnispartner für den vorwiegend im Süden des Globus verankerten Widerstand gegen Landgrabbing – erinnert sei nur daran, dass im Januar bereits im zweiten Jahr in Folge rund 20.000 Menschen unter dem Motto „Wir haben es satt! Bauernhöfe statt Agrarindustrie“ auf die Straße gegangen sind. Hintergrund ist der im Feld der Energie- und Klimakämpfe bis heute viel zu wenig beachtete Umstand, dass Landwirtschaft durch ihren agrarindustriellen, d.h. energieintensiven Zuschnitt mit ca. einem Drittel zu den weltweiten CO2-Emissionen beiträgt – eine Zahl, die ihrerseits auf den von kleinbäuerlichen Organisationen schon lange propagierten Slogan „Small Farmers cool the planet“ verweist.
Wie indes die Brückenschläge – jenseits der praktischen Unterstützung kleinbäuerlicher Anti-Landgrabbing-Proteste – konkret aussehen können, ist eine noch offene Frage. Denn Gegner gibt es viele, ob Biodieselunternehmen, diverse Landinvestoren oder die europäische Agrospritpolitik. Entsprechend hat Afrique-Europe-Interact bereits erste Schritte eingeleitet: Geplant sind mehrere Aktionen unter dem Motto – Bertold Brecht sei Dank – „Bankraub statt Landraub“.
1 Zu den Zahlen: vgl. Thomas Fritz, Das große Bauernlegen, Berlin 2010
2 PERIPHERIE Nr. 124, 31. Jg. 2011, Münster
3 Dieser und weitere Appelle bzw. Aufrufe sind auf www.afrique-europe-interact.net dokumentiert.
Olaf Bernau (NoLager Bremen)