„Y en a marre!“. Wie ECOWAS und EU den demokratischen Aufbruch in Mali blockieren
Beilage von Afrique-Europe-Interact in der bundesweiten Ausgabe der tageszeitung taz (8. Dezember 2012)
Das Panorama des globalen Widerstands ist zweifellos beeindruckend: Nicht nur in Südeuropa oder der arabischen Welt, auch im Afrika südlich der Sahara haben in den letzten zwei Jahren in mindestens 15 Ländern Massenproteste oder Aufstände stattgefunden – nicht selten unter dem von jugendlichen DemonstrantInnen in Senegal geprägten Slogan „Y en a marre“ (in etwa: Das Maß ist voll). Programmatischer Dreh- und Angelpunkt ist hierbei insbesondere die kollektiv geteilte Erfahrung gewesen, wonach neoliberale IWF-Strukturanpassungsprogramme und Freihandelspolitiken in den vergangenen 30 Jahren viele jener Erfolge im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereich zunichte gemacht haben, die in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit mühsam erzielt werden konnten.
Die Mehrheit der Proteste hat es indessen nie ins Zentrum der globalen Aufmerksamkeitsökonomie geschafft, stattdessen wurden etliche von ihnen durch massive Repression erstickt, bisweilen sind sogar externe Akteure auf den Plan getreten. Paradebeispiel für letzteres ist das westafrikanische Mali, wo am 22. März diesen Jahres junge Soldaten den langjährigen Präsidenten Amadou Toumani Touré in einer spontanen Protestaktion zusammen mit großen Teilen der bisherigen politischen Elite buchstäblich aus dem Amt gejagt haben – ursprünglich aus Unzufriedenheit darüber, wie dilettantisch die Regierung mit der von Tuareg und Islamisten im Norden des Landes angezettelten Rebellion verfahren ist (vgl. S. 3). Was zunächst wie ein drittklassiger Staatsstreich aussah, entpuppte sich rasch als demokratische Renaissance von unten. Denn große Teile der Bevölkerung begrüßten den Putsch als Befreiungsschlag: „Heute beginnen sich die Zungen zu lösen, indem sie den ganzen Gestank eines Systems enthüllen, welches sich auf Lüge und Plünderung öffentlicher Ressourcen durch eine Minderheit von Betrügern in Uniform und weißer Krawatte stützt.“ Derart eindringlich formulierte es Issa N’Diaye, Philosophieprofessor in Bamako und selber Minister in den ersten 7 Jahren nach der erfolgreichen Überwindung der Militärdiktatur im Jahre 1991. Ob GewerkschafterInnen, MigrantInnenorganisationen oder Interessenvertretungen der Bauern und Bäuerinnen, allenthalben wurde mit dem vor allem seitens der reichen Industrieländer sorgsam kultivierten Mythos von Mali als so genannter Musterdemokratie aufgeräumt. Oppositionsparteien, freie Presse und eine zivile Regierung sind zwar elementar, so der einhellige Tenor innerhalb der malischen Zivilgesellschaft. Wenn aber Wahlregister hoffnungslos veraltet seien, Stimmen vor Wahllokalen gegen eine Mahlzeit verkauft würden und im Parlament französisch gesprochen würde, eine Sprache, die allenfalls ein Drittel der Bevölkerung adäquat verstünde, dann könne von Demokratie nicht die Rede sein (oder was würde hierzulande passieren, wenn Bundestagdebatten zum ESM-Rettungsschirm auf englisch abgehalten würden). Hinzu kommen kaum vorstellbare Plünderungen der öffentlichen Kassen, allein ein Drittel der Entwicklungshilfe soll regelmäßig in privaten Kanälen verschwinden, so die KritikerInnen. Nicht minder skandalös sei die Verschleuderung öffentlicher Güter, beispielsweise der Ausverkauf fruchtbarer Böden an global operierende Investoren (vgl. S. 3) oder der Umstand, dass Steuern im Minensektor gerade mal 10 Prozent der Nettogewinne ausmachen würden. Zusammen ist das der Grund, weshalb ein großes Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen bereits seit Monaten die Regierung zur Einberufung einer so genannten „concertation nationale“ drängt, einer Art Vollversammlung aller gesellschaftlichen Gruppen, aus deren Mitte die Initiative zu fairen, das heißt die Interessen der armen Bevölkerungsmehrheit wirklich berücksichtigenden Wahlen hervorgehen soll.
Und doch: Die Sorge, dass das malische Experiment Schule machen könnte, war bzw. ist zu groß. Das Argument, wonach der Putsch die Demokratie vor dem Zugriff einer kleptokratischen Elite geschützt und nicht etwa untergraben habe, blieb international unerhört. Stattdessen zwang die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS mit maßgeblicher Unterstützung der EU Mali zur Umsetzung diverser als „demokratisch“ titulierter Maßnahmen, unter anderem zur Ernennung des bisherigen, im März ebenfalls geschassten Parlamentspräsidenten Dioncounda Traoré zum neuen Übergangspräsidenten. Die Empörung über derartige, mit Hilfe brachialer Wirtschaftssanktionen durchgesetzter Einmischungen von außen war riesig, zumal Traoré und das von ihm berufene Kabinett bislang keinerlei Anstrengung zur Unterstützung besagter „concertation nationale“ unternommen haben. Es dürfte daher auch nicht überraschen, dass große Teile der Bevölkerung derzeit einer ausländischen Militärintervention zur Vertreibung der im Norden des Landes herrschenden Islamisten äußerst skeptisch gegenüberstehen.
Der repressive Umgang mit der malischen Demokratiebewegung ist nur ein Beispiel, mit welcher Bigotterie Europa immer wieder mit seinen eigenen Werten verfährt. Ein anderes ist das fundamentale Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit, welches durch die EU in Kooperation mit den Regierungen des Maghreb ebenfalls massiv beschnitten wird. Es ist daher auch keineswegs zufällig, dass Algerien erst jüngst den Bau eines 1,5 Mrd. Dollar teuren High-Tech-Zauns mitten in der Wüste entlang der Grenze zu Mali angekündigt hat – begründet unter anderem mit den zu erwartenden Flüchtlingsströmen Richtung Europa, sollte es in Mali tatsächlich zu Kampfhandlungen mit islamistischen Milizen kommen. Aber nicht nur in der Wüste, auch auf dem Meer werden Flüchtlinge unverändert bekämpft, erwähnt sei nur, dass Ende Oktober 58 Menschen vor Gibraltar ums Leben gekommen sind, obwohl das in Seenot geratene Boot von einem Flugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex fotografiert wurde.
Unser transnationales Netzwerk Afrique-Europe-Interact bringt afrikanische und europäische AktivistInnen zusammen. Begonnen hat es Anfang 2011 mit der Bamako-Dakar-Karawane für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung, seitdem engagieren wir uns schwerpunktmäßig gegen das tödliche EU-Grenzregime in Tunesien und Marokko (vgl. S. 2) sowie gegen Landgrabbing in Mali. Jenseits dessen unterstützen wir die Bemühungen der malischen Sektion unseres Netzwerks, mittels eines Friedensmarsches nicht nur die Demokratiebewegung in Mali zu unterstützen, sondern auch nicht-militärische Ansätze zur Lösung der derzeitigen Krise im Norden Malis stark zu machen (vgl. nebenstehendes Interview).