Aus Lampedusa lernen. Fluchtwege öffnen, neokoloniale Zerstörung beenden

Beilage von Afrique-Europe-Interact in der bundesweiten Ausgabe der tageszeitung taz (5. Dezember 2013)

Der Widerspruch könnte kaum größer sein: Quer durch Europa haben die Särge von Lampedusa einen längst überfälligen Schrei des Entsetzens ausgelöst. Immer offenkundiger wird, dass der tausendfache Tod auf dem Meer oder in der Wüste unmittelbare Konsequenz der brutalen Migrationskontrolle an den EU-Außengrenzen ist. Um so bemerkenswerter, ja zynischer erscheint es, dass sich die europäische Politik bislang weitgehend unbeeindruckt zeigt – trotz des fast schon historisch anmutenden Stimmungswandels innerhalb beträchtlicher Teile des medialen Mainstreams. Die Toten spielen so gut wie keine Rolle, vielmehr wird unverändert die militärische Hochrüstung der Grenzen vorangetrieben – unter Federführung Deutschlands als dem eigentlichen Nutznießer der Festung Europa.

So hat Italien mit ausdrücklichem Verweis auf die jüngsten Bootstragödien begonnen, Libyen beim Ausbau seiner Südgrenze mitten in der Sahara logistisch und materiell zu unterstützen. Gleichzeitig ist geplant, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention verbotenen Rückschiebungen („Refoulements“) zu legalisieren. Das heißt, aus Seenot gerettete Flüchtlinge sollen zukünftig direkt in ihre Abfahrtländer zurückgeschoben werden – ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag stellen zu können.

Wie menschenverachtend das Kalkül des gezielten Sterbenlassens ist, zeigt die Situation im tunesischen Wüstencamp Choucha: 20.000 Kriegsflüchtlinge aus Libyen haben das Lager durchlaufen, 400 sind übrig geblieben, mehrheitlich aus Subsahara-Afrika. Davon wurden lediglich 135 vom UN-Flüchtlingskommissariat als Flüchtlinge anerkannt, 262 hingegen in zum Teil grotesken Verfahren abgelehnt. Alle eint, dass sie in Tunesien weitgehender Entrechtung ausgesetzt sind, inklusive massiver rassistischer Diskriminierung im Alltag. Vor diesem Hintergrund haben bereits zahlreiche Choucha-Flüchtlinge in den letzten zwei Jahren keine andere Möglichkeit als die Überfahrt per Boot gesehen, nicht wenige sind dabei ums Leben gekommen. Afrique-Europe-Interact fordert deshalb zusammen mit Pro Asyl und den Landesflüchtlingsräten, dass Deutschland die verbliebenen Choucha-Flüchtlinge im Rahmen seines Ressetlementprogramms umgehend aufnehmen möge (vgl. S. 3 + 4). Denn weitere Tote können und müssen verhindert werden – und das um so mehr, als den zuständigen Behörden Namen und Aufenthaltsort der Choucha-Flüchtlinge bekannt sind! Ähnlich die Situation der seit Monaten für ein Bleiberecht kämpfenden Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg, die Libyen ebenfalls 2011 verlassen mussten: Sie wurden zwar in Italien als Flüchtlinge anerkannt, haben dort jedoch – genauso wie die Choucha-Flüchtlinge in Tunesien – keine Chance auf Arbeit oder soziale Integration erhalten. Deshalb sind sie nach Hamburg weitergewandert, wo ihnen allerdings seitens der SPD-Regierung bis heute ein Bleiberecht durch eine Gruppenanerkennung als Kriegsflüchtlinge verweigert wird. Die Proteste in Choucha und Hamburg sind stellvertretende Beispiele, denn allerorten kämpfen Flüchtlinge für ihre Rechte. Sie machen damit einmal mehr deutlich, dass die Zeit der wohlfeilen Worte abgelaufen ist, gefragt sind stattdessen praktische Schritte – und zwar sofort:

Entkriminalisierung der Fluchtwege: Wer das Massensterben auf dem Meer beenden möchte, muss die Fluchtwege öffnen, also sicherstellen, dass Flüchtlinge ganz normal die ständig über das Mittelmeer pendelnden Passagierfähren benutzen können. Denn nur wer keine andere Möglichkeit hat, steigt in die überladenen Boote der viel gescholtenen Schleuser. Gleiches gilt für die Wüste: Auch diese wäre sicher passierbar, wenn die Flüchtlinge nicht ständig gezwungen wären, wegen der im Auftrag der EU errichteten Kontrollposten gefährliche Umwege zu nehmen – so wie Ende Oktober, als 92 Menschen aus dem Niger auf grausame Weise in der Sahara verdurstet sind, darunter 52 Kinder. Zur Entkriminalisierung gehört zudem, dass FischerInnen und Seeleute nicht bestraft werden, wenn sie Bootsflüchtlinge aufnehmen und in den nächstgelegenen Hafen bringen, wie es das von der EU seit Jahren systematisch ausgehöhlte Seerecht eigentlich vorschreibt.

Dublin II bzw. III abschaffen: Die 2003 verabschiedete Dublin II-Verordnung besagt, dass Flüchtlinge in dem EU-Land ihr Asylverfahren durchlaufen müssen, das sie als erstes betreten haben. Da viele über den Land- oder Seeweg kommen (weil sie weder Pass noch Visa besitzen), sind das häufig Länder in Süd- oder Osteuropa. Einziger Haken: Dort landen Flüchtlinge auf der Straße oder im Gefängnis, Jobs sind wegen der Krise kaum noch verfügbar. Vor diesem Hintergrund werden weitergewanderte Flüchtlinge in Deutschland schon seit längerem nicht mehr nach Griechenland zurückgeschoben, aber auch Rückschiebungen nach Italien oder Ungarn werden von Verwaltungsgerichten zunehmend untersagt. Kurzum: Anstatt Flüchtlinge rechtlich an die südlichen Länder zu ketten, sollten sie dorthin gehen können, wo sie Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben und faire Asylverfahren haben, dafür müssten ggf. Kosten innerhalb der einzelnen EU-Länder umverteilt werden.

Entrechtung in Europa stoppen: Die systematische Entrechtung und Diskriminierung von Flüchtlingen muss umgehend beendet werden, beispielhaft erwähnt seien für Deutschland Lagerunterbringung, Residenzpflicht und Arbeits- bzw. Ausbildungsverbote. Denn derartige Regelungen verstoßen nicht nur gegen den universell gültigen Gleichheitsgrundsatz und somit die Menschenwürde, sie machen die Betroffenen auch physisch und psychisch krank.

Falsche Unterscheidung zwischen politisch Verfolgten und ArmutsmigranInnten aufheben: Die Leute kommen aus unterschiedlichsten Gründen nach Europa, unter anderem weil ihre Existenzgrundlagen zerstört werden, ob durch Uranabbau, Ressourcenkriege oder verschuldungsbedingte Privatisierungen (vgl. S. 2). All dies ist Ergebnis politisch-ökonomischer Entscheidungen, etwa im Rahmen der „Economic Partnership Agreements“ (EPA) zwischen Europa und Afrika. Um so heuchlerischer ist es, wenn europäische PolitikerInnen immer wieder von der Notwendigkeit fabulieren, „Fluchtursachen“ zu bekämpfen. Erforderlich ist vielmehr, neokoloniale Dominanz- und Ausbeutungsverhältnisse offensiv in Frage zu stellen – wozu auch passt, dass afrikanische Basisbewegungen anlässlich des afrikaweiten Lampedusa-Gedenktags am 3. November vehement die Rolle ihrer korrupten, machtversessenen und undemokratischen Eliten an den Pranger gestellt haben.