Von Lampedusa zum Alarm Phone. Eine Notruf-Nummer soll Bootsflüchtlinge in Seenot unterstützen

Beilage von Afrique-Europe-Interact in der bundesweiten Ausgabe der tageszeitung taz (4. Dezember 2014)

Über ein Jahr ist es her, dass europäische Politiker_innen angesichts der Bootskatastrophe von Lampedusa am 3. Oktober 2013 mit mindestens 366 Toten weitgehende Veränderungen angemahnt haben. Beispielsweise der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso: „Die EU kann nicht akzeptieren, dass Tausende Menschen an ihren Grenzen sterben.“ Oder der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck: „Wegzuschauen und sie hinein segeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, das missachtet unsere europäischen Werte.“ Um so unbegreiflicher, ja menschenverachtender ist es, dass sich die Situation in den letzten 12 Monaten weiter zugespitzt hat:

Bereits im September meldete die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass seit Jahresbeginn über 3.000 Menschen im Mittelmeer gestorben sind. Mehr Flüchtlinge und Migrant_innen als jemals zuvor – die meisten von ihnen aus Ländern wie Syrien, Irak, Eritrea oder Somalia. Und es wären noch Hunderte, ja Tausende mehr gewesen, hätte sich die italienische Regierung nicht gezwungen gesehen, als Konsequenz aus Lampedusa die Marineoperation „Mare Nostrum“ (Unser Meer) ins Leben zu rufen. Denn indem Schiffe und Flugzeuge bis in die Nähe der libyschen Küste gezielt nach Flüchtlingsbooten in Seenot suchten, konnten seit November 2013 über 150.000 Menschen gerettet werden. Ebenfalls so viele wie noch nie seit Einführung der allgemeinen Visapflicht im Jahr 1993.

Die überragende Bedeutung dieser Rettungsmission ist in menschenrechtlicher Hinsicht kaum zu überschätzen, zumal nicht aus dem Blick geraten sollte, dass es letztlich die europaweiten Proteste waren, die zusammen mit dem ganz realen Druck durch die Bootsflüchtlinge Mare Nostrum überhaupt erst zur politischen Notwendigkeit gemacht haben. Gleichwohl hat die italienische Regierung beschlossen, Mare Nostrum Ende 2014 auslaufen zu lassen – auch, weil die übrigen EU-Staaten nicht bereit waren, sich an den Kosten zu beteiligen. Als Nachfolger ist am 1. November „Triton“ in Kraft getreten – eine Maßnahme der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Und das, obwohl Triton in erster Linie die Grenzkontrollen verschärfen, nicht aber Mare Nostrum ersetzen soll, wie Frontex-Chef Gil Arias unmissverständlich betont hat: „Wir sind keine Agentur, die sich mit der Lebensrettung auf hoher See befasst“ – ein Umstand, der auch darin zum Ausdruck kommt, dass für Triton nur noch 36 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung stehen, anstatt 100 Millionen Euro wie für Mare Nostrum.

Es passt insofern auch zeitlich, dass am 10. Oktober ein alternatives, rund um die Uhr besetztes Notruftelefon für Flüchtlinge in Seenot seine Arbeit aufgenommen hat – getragen von zahlreichen Netzwerken und Gruppen auf beiden Seiten des Mittelmeers, darunter auch Afrique-Europe-Interact. Hintergrund ist die vielfach dokumentierte Erfahrung, dass zwar Notrufe erfolgen, Rettungsmaßnahmen aber ausbleiben oder viel zu spät eingeleitet werden. Ziel des „Watch the Med Alarm Phone“ – so der offizielle Titel – ist also, Druck auf diejenigen auszuüben, die retten können, ganz gleich, ob Küstenwache, kommerzielle Schifffahrt oder Militär. Konkreter: Wenn Boatpeople anrufen – manchmal auch Freund_innen oder Verwandte, die selber einen Notruf erhalten haben –, dann müssen in einem ersten Schritt die wichtigsten Fragen geklärt werden: Die Telefonnummer, die GPS-Daten, die Zahl der Leute, der Zustand des Bootes und vor allem die aktuelle Lage, einschließlich der Frage, welche Art von Hilfe überhaupt gewünscht ist. Sind diese Informationen übermittelt, können die zuständigen Alarm Phone-Aktivist_innen (wozu auch Leute mit eigenen Bootserfahrungen gehören) mittels ihrer eigenen Webseite www.watchthemed.net sowie anderer Internetangebote klären, wo sich das Boot genau befindet, welches Land für die Rettung zuständig ist, welche Schiffe in der Nähe des Boots unterwegs sind etc. Wenn es sich um ein Satellitentelefon handelt, kann selbst auf hoher See zurückgerufen oder das Kreditguthaben aufgeladen werden. Kurzum: Das Alarmphone sammelt so viele Informationen wie möglich und konfrontiert damit die jeweils zuständigen Küstenwachen – notfalls auch unter Einschaltung von Journalist_innen oder anderen zivilgesellschaftlichen oder staatlichen Akteuren.

Und doch: So unumgänglich derartige Initiativen sind, sie stellen keine Alternative zur eigentlichen Notwendigkeit dar, das heißt zur Öffnung der Fluchtwege und somit zur Möglichkeit, auf einer der ständig über das Mittelmeer pendelnden Passagierfähren sicher, kostengünstig und ohne erpresserischen Druck durch das Schlepperbusiness nach Europa zu gelangen.

Schließlich: Wenn Afrique-Europe-Interact die politischen Heuchelei Europas in den Blick nimmt, ist das nicht nur auf das knallharte Migrationsregime innerhalb der EU und an den Außengrenzen gemünzt. Vielmehr geht es auch um das, was im offiziellen Diskurs unter dem Schlagwort „Fluchtursachen bekämpfen“ firmiert. Denn die EU präsentiert sich gerne als Feuerwehr, wo sie doch selbst all zu häufig als Brandstifterin agiert – gerade in zahlreichen Ländern Afrikas. Jüngstes Beispiel: Als Anfang Dezember der Langzeitherrscher Blaise Campaoré in Burkina Faso durch eine breite Volksbewegung aus dem Amt gefegt wurde und mit Hilfe eines französischen Militärhubschaubers das Land verlassen hat, war hierzulande von offizieller Seite kaum etwas zu vernehmen: Kein Wort dazu, dass Blaise Campaoré 1987 durch einen von Frankreich unterstützen Mord an seinem Vorgänger Thomas Sankara an die Macht gelangt war, einem der wichtigsten Hoffnungsträger des afrikanischen Kontinents im 20. Jahrhundert. Kein Wort dazu, dass Blaise Campaoré in den 1990er Jahren auf Seiten des inzwischen verurteilen Kriegsverbrechers Charles Taylor Liberia militärisch unterstützt und mit Blutdiamanten aus Sierra Leone gedealt hat. Kein Wort dazu, dass Blaise Campaoré das Land bis zum Schluss mit Korruption, Klientelismus und blanker Repression im eisernen Griff gehalten hat. Dieses Schweigen kann nicht verwundern. Denn bis zu seinem Sturz galt Blaise Campaoré als treuer Verbündeter westlicher, insbesondere französischer Interessen in Westafrika. Aber wie gesagt, Burkina Faso ist nur eines von vielen Beispielen. Wir berichten daher in dieser Zeitung auf den Seiten 2 und 3 ausführlich von unseren Aktivitäten in Mali und Togo, wo wir mit ähnlichen Interessegeflechten konfrontiert sind.

Information: Als Hintergrundlektüre sei ausdrücklich das Buch unseres Mitstreiters Emmanuel Mbolela empfohlen: Mein Weg von Kongo nach Europa. Zwischen Widerstand, Flucht und Exil: vgl. S. 4