Rezension: Trotz Allem. Charlotte Wiedemanns beeindruckendes Portrait der malischen Gesellschaft

Südlink 171, März 2015

Bereits in ihrem 2012 erschienenen Buch „Vom Versuch nicht weiß zu schreiben“ spricht die Journalistin Charlotte Wiedemann von der Notwendigkeit, den Mittelpunkt der Welt wandern zu lassen. Gerade AuslandsjournalistInnen verstünden sich in aller Regel als „Allesversteher“, ohne jeden Begriff für „die Grenzen ihrer eigenen Erkenntisfähigkeit“. Geboten sei daher die „Verunsicherung des weißen Blicks auf die Welt“, so das programmatische Credo des viel beachteten Buches. Welch enormes Potential in einer solchen Haltung liegt, zeigt Wiedemann nunmehr in ihrer jüngsten Veröffentlichung zu Mali. Gleich in der Einleitung heißt es, dass nicht das Mali der NGO oder EntwicklungshelferInnen gezeigt werden solle, vielmehr würde versucht, „die Maßstäbe zu verstehen, nach denen sich die Malier selbst betrachten.“ Folgerichtig geht Wiedemann weit in der Geschichte zurück.

Sie beginnt mit den drei großen multiethnischen Reichen auf malischem Territorium, in denen nicht nur MalierInnen, sondern viele geschichtsbewusste AfrikanerInnen „die Selbstvergewisserung finden, dass ihr Kontinent über beachtliche Beispiele früher Zivilisationen verfügte.“ Besonders faszinierend die Beschäftigung mit der Wüstenstadt Timbuktu, jenem kosmopolitischen Gelehrtenzentrum im Schnittfeld unterschiedlicher kultureller Einflüsse, das „die Islamisierung Afrikas ebenso wie die Afrikanisierung des Islam“ verkörpert. Ein weiterer Schwerpunkt des Buches behandelt die Vorherrschaft der ehemaligen Kolonialsprache im öffentlichen Raum, nicht zuletzt im Parlament. Denn nur ein Bruchteil der Bevölkerung versteht französisch. Konsequenz ist, dass die MalierInnen ihren Staat als bloße Fassadendemokratie im Dienste einer hochgradig korrupten Politikerkaste in der Hauptstadt Bamkao erleben. Eng hiermit verwoben sind die ebenfalls desaströsen Auswirkungen einer „zutiefst ungerechten Weltordnung“, die in mehreren Kapiteln materialreich beschrieben werden, unter anderem am Beispiel der Goldförderung, des Anbaus von Baumwolle und der verschuldungsbedingten Privatisierung des Dakar-Niger-Express. Doch der Autorin geht es um mehr. Auf der Basis unzähliger Gespräche, Begegnungen und persönlicher Kontakte beschreibt sie die vielfältigen Überlebens- und Selbstbehauptungsstrategien der ganz normalen Menschen. Denn Mali ist arm, nicht aber verelendet, dafür sorgt nicht nur ein komplexes System familiärer und nachbarschaftlicher Solidarität, sondern auch eine ganz eigene Form von Zielstrebigkeit, die sich insbesondere durch „Geduld und Ausdauer“ auszeichnet – übrigens auch im Prozess der Migration. Wiedemanns Beschreibungen sind fragend, behutsam und empathisch, sie erfüllt ihre eigenen Ansprüche auf überzeugende Weise, kurzum: ein Meilenstein journalistischer Erzählkunst!

Olaf Bernau

Charlotte Wiedemann: Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land. Phanteon, September 2014 , 304 Seiten, 14,99 Euro.