Wider den Selbstbetrug der EU. Globales Nord-Süd-Gefälle überwinden, Bewegungsfreiheit herstellen

Beilage von Afrique-Europe-Interact in der bundesweiten Ausgabe der tageszeitung taz (3. Dezember 2015)

„Fluchtursachen bekämpfen“ – spätestens seit Geflüchtete und Migrant_innen das europäische Grenzregime massenhaft überrannt haben, ist das martialisch anmutende Motto zu einer Art Hoffnungsanker europäischer Politiker_innen geworden. Mehr noch: Die EU hat das Thema Mitte November ins Zentrum des afrikanisch-europäischen Migrationsgipfels auf Malta gerückt. Und auch die Medien ziehen mit. In zahlreichen Hintergrundberichten werden derzeit Armut, Umweltzerstörung oder Krieg thematisiert. Gleichwohl bleibt die öffentliche Debatte seltsam steril. Denn ein Blick hinter die Kulissen findet nur selten statt, Europa scheint mit den strukturellen Ursachen von Flucht und Migration kaum etwas zu tun zu haben – jedenfalls was Afrika betrifft. Handfeste Ergebnisse konnten daher auf Malta nicht erzielt werden, zur Diskussion stehen stattdessen aberwitzige Szenarien. Beispielsweise im Niger riesige Auffanglager für Geflüchtete zu bauen – also in einem Land, das im UN-Index für menschliche Entwicklung seit Jahren auf dem letzten Platz rangiert.

Kurzum, vieles spricht dafür, einen Perspektivwechsel zu vollziehen: Anstatt die eigene Verantwortung zu leugnen, sollte sich Europa endlich der Tatsache stellen, dass es in den letzten Jahrzehnten mit seiner rücksichtslosen Wirtschafts- und Interessenpolitik maßgeblich zur aktuellen Situation in weiten Teilen Afrikas beigetragen hat – wie einige Beispiele zeigen mögen: Als Anfang der 1980er Jahre zahlreiche Länder des globalen Südens in den Schuldenstrudel gerieten, wurden ihnen vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bzw. der Weltbank so genannte Strukturanpassungsprogramme auferlegt, also jene neoliberale Rosskur, die Griechenland seit 2010 zu durchlaufen hat. Nicht nur öffentliche Ausgaben mussten massiv gekürzt werden, etwa im ohnehin nur bruchstückhaft entwickelten Bildungs- und Gesundheitswesen – letzteres mit fatalen Auswirkungen bis hin zur jüngsten Ebolakrise in Sierra Leona, Liberia und Guinea. Auch zahlreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen wurden verhängt, darunter Marktöffnungen sowie der Abbau preistabilisierender Subventionen. Ergebnis war, dass viele der in den ersten 20 Jahren seit der Unabhängigkeit entstandenen Industriebetriebe unter der plötzlichen Weltmarktkonkurrenz wie Kartenhäuser zusammenbrachen – ein Schock, von dem sich die meisten der betroffenen Länder bis heute nicht erholt haben. Umso dramatischer ist es, dass es der EU 2014 nach jahrelangem Druck gelungen ist, zahlreiche Länder Afrikas zur Unterzeichnung der Economic Partnership Agreements (Wirtschaftspartnerschaftsabkommen), kurz EPAs, zu nötigen. Denn obwohl gerade mal 10 Prozent der afrikanischen Produkte auf dem Weltmarkt als konkurrenzfähig gelten, sehen die EPAs vor, dass die Europäische Union 83 Prozent ihrer Produkte zollfrei nach Afrika exportieren kann. Hinzu kommt, dass dies für die afrikanischen Staaten bis zu 2,3 Millarden Euro jährliche Einnahmeausfälle beim Zoll bedeuten dürfte, was ungefähr zwei Drittel der jährlichen Entwicklungshilfe aus Deutschland entspricht.

Ein weiteres Beispiel: Als den am höchsten verschuldeten Entwicklungsländern zwischen 1999 und 2004 im Rahmen eines hierzulande hoch gelobten Entschuldungsprogramms der Weltbank ihre Schulden erlassen wurden, war auch dies an strenge Auflagen gekoppelt. So wurde Ghana 2003 gezwungen, Einfuhrzölle gegen Dumping-Hühnerfleisch aus der EU zurückzunehmen, obwohl ghanaische Hühnchenzüchter hierdurch bereits erhebliche Marktanteile eingebüßt hatten. Gleichermaßen wurden die betreffenden Länder gezwungen, hochgradig investorenfreundliche Bergbaugesetze zu verabschieden. Konsequenz war, dass die internationalen Bergbaukonzerne kaum noch Steuern oder Abgaben abführen mussten. Konkreter: Während die afrikanische Bergbauindustrie in den 1990er Jahren durchschnittlich 5 Prozent Gewinn pro 1 Dollar Umsatz gemacht hat, ist dieser Wert bis 2008 auf 27 Prozent angewachsen. Entsprechend betragen die Steuern der Minenkonzerne in einem bitterarmen Land wie Mali gerade mal 10 Prozent ihrer Nettogewinne.

Doch nicht nur ökonomisch, auch politisch macht Europa seine Interessen immer wieder geltend – notfalls auch opportunistisch. Als etwa im Oktober 2014 in einem gewaltfreien Volksaufstand in Burkina Faso der langjährige Diktator Blaise Compaoré aus dem Amt gejagt wurde (vgl. S. 2), unterstützte die EU den anschließenden Übergangsprozess ohne Umschweife. Vergessen war, dass Compaoré bis zu seinem Sturz durch die EU als sogenannter Stabilitätsanker in Westafrika hofiert wurde. Vergessen war auch, dass Compaoré für den Mord an seinem Vorgänger Thomas Sankara verantwortlich gewesen ist, also jenem Politiker, der sich nicht zuletzt deshalb den geballten Zorn des Westens zugezogen hatte, weil er 1987 in seiner berühmten Rede vor der Organisation für Afrikanische Einheit die afrikanischen Staatschefs aufgefordert hatte, ihre Schuldenzahlungen einzustellen.

Gewiss, das Genannte stellt lediglich einen Ausschnitt dar. Dennoch dürfte deutlich geworden sein, wie abstrus die auf Malta erfolgte Ankündigung der EU gewesen ist, mit der läppischen Summe von 1,8 Milliarden Euro Fluchtursachen in Afrika bekämpfen zu wollen. Erforderlich wäre vielmehr, in einem ersten Schritt von all jenen Maßnahmen wie den (noch nicht ratifizierten) EPAs abzulassen, die so etwas wie eine eigenständige Entwicklung vieler afrikanischer Länder bereits im Keim ersticken. Hinzu kommt die Notwendigkeit umfassender materieller und finanzieller Unterstützung – im Übrigen auch als Entschädigung für Sklaverei, Kolonialismus, Strukturanpassungspolitik und Klimawandel.

Unbeschadet dessen ist die EU weiterhin für ihre Abschottungspolitik massiv zu kritisieren. Denn diese kann lediglich den menschlichen Preis nach oben treiben, nicht aber den Aufbruch immer neuer Flüchtlinge und Migrant_innen verhindern – jedenfalls nicht unter den aktuellen Rahmenbedingungen. Statt geschlossener Grenzen ist vielmehr Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, denn nur wenn Menschen sicher, kostengünstig und ohne erpresserischen Druck durch das Schlepperbusiness kommen und wieder gehen können, kann sich langfristig eine gute Balance zwischen Migration und selbstbestimmter Entwicklung herausbilden – ob als dauerhafte oder als Pendel-Migration.