Das Unmögliche akzeptieren. Godeliève Mukasarasi und Florida Mukarubuga im Gespräch über feministische Kämpfe vor und nach dem Völkermord in Ruanda.

ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 612 / 19.01.2016

Godeliève Mukasarasi und Florida Mukarubuga sind Überlebende des Völkermords in Ruanda (1994). Beide sind seit den 1970er Jahren feministisch aktiv, beide spielen in Leona Goldsteins Film „God is not working on Sunday!“ eine zentrale Rolle. Das Gespräch wurde im März 2015 in Bremen geführt, neben den beiden Protagonistinnen des Films war auch Leona Goldstein an dem Gespräch beteiligt.

ak: Wann habt ihr angefangen, für die Rechte von Frauen zu kämpfen? Und wann und wo habt ihr euch kennengelernt?

Godeliève: Meine Erfahrungen im Bereich der Frauenrechte haben schon 1975 angefangen. Ich habe mich damals in der Oberschule auf den Bereich soziale Arbeit spezialisiert. Es ging hauptsächlich um Beratung von Frauen, bezogen auf den häuslichen Bereich und Alphabetisierung. Nach dem Genozid habe ich SEVOTA gegründet, eine Organisation für die Rechte vergewaltigter Frauen und ihrer Kinder, die aus Vergewaltigungen hervorgegangen sind.

Florida: Ich persönlich habe in meiner Familie Gefallen an den Rechten der Frau gefunden. Ich war das älteste Kind, wir waren eine große Familie. Mein Vater stand hinter den Kühen und hat in die Luft geguckt, aber meine Mutter musste alles machen, kochen putzen, alles. Ich fand das ungerecht, zumal meine Brüder Fußball spielen konnten, während ich meiner Mutter immer im Haushalt helfen musste. Irgendwann habe ich Godeliève kennengelernt, auf dieser Schule für soziale Arbeit, sie war zu dieser Zeit ein Basketballstar, das fand ich sehr toll, das habe ich bewundert. Ich habe dann 1976 angefangen, in einem Zentrum für Ernährung und öffentliche Gesundheit zu arbeiten, auch Familienplanung war da schon ein Thema. Später habe ich in Kigali in einer nationalen Institution für Familien- und Geburtenplanung gearbeitet. Doch als der Genozid passiert ist, war es zunächst einmal zu Ende für mich, ich hatte fast alles verloren, ich hatte keinen Kopf mehr, irgendetwas zu machen, ich hatte körperliche Probleme, Magenprobleme, Rückenschmerzen, Stress. Das Ganze ging über 4 Jahre, ich war fertig mit der Welt. Doch dann kamen zwei Freundinnen von der Frauenoganisation Amizero, die wir bereits 1992 gegründet hatten. Sie meinten: Du musst jetzt arbeiten, sonst stirbst du. Ich bin dann zuerst einen Tag pro Woche hingegangen, dann zwei Tage, am Ende jeden Tag, insgesamt 5 Jahre als Freiwillige.

Godeliève: Nochmal zurück zu unserer Beziehung: Wie Florida schon gesagt hat, hatten wir seit 1975 einen Kreis von Freundinnen, das ist seitdem geblieben, wir sind sehr verbunden miteinander, sehr einträchtig. Als 1997 mein Mann und meine Tochter ermordet wurden, hat sich Florida wie meine Schwester verhalten, das war eine große Sache, das hat mich sehr berührt. Auf dem professionellen Niveu sind wir über die Organisation Pro Femmes zusammengeschlossen: Dem Netzwerk für die Rechte der Frauen gehören 63 Organisationen an, Florida und ich gehören zum Kreis der 8 Sprecherinnen. Wir haben auch zusammen das Programm mit den Gefangenen gemacht, bei dem wir in unterschiedliche Gefängnisse im Land gegangen sind.

Wie ist euer Leben nach dem Genozid weitergegangen?

Godeliève: Ich habe im Rahmen von SEVOTA eine juristische Zusatzausbildung gemacht. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, Frauen, die Opfer von Vergewaltigung geworden waren, besser zu vertreten. Wir haben dafür plädiert, dass Vergewaltigungen nicht mehr in Kategorie 4 verhandelt werden, was für Plünderung steht, sondern in Kategorie 1, was für Mord steht. Ergebnis war, dass Männer, die als Vergewaltiger verurteilt wurden, eine lebenslänge Strafe erhielten. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass das sehr brutale Vergewaltigungen waren. Die Männer waren unter Drogen, sie haben dich bewusst nicht umgebracht, sondern sie haben dich infiziert mit dem Virus, das ist eine wirklich bizarre Art, dich umzubringen, weil du stückweise sterben wirst. Wichtig war auch, dass Vergewaltigungen zunächst ein absolutes Tabuthema waren. Die betroffenen Frauen wollten darüber nicht sprechen. Das hat viel Anstrengung gekostet, sie zu mobilisieren, dass sie ihre Rechte einfordern. Wir haben viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht, am Ende waren es die Frauen von SEVOTA, die als erste vor dem Internationalen Tribunal zum Genozid in Ruanda in Arusha in Tansania ausgesagt haben. 1998 hatten wir einen weiteren großen Erfolg, als die UN Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt hat.

Florida: Ich konnte irgendwann auch wieder Frauen fortbilden. Ein wichtiges Thema, was es darin gab, war das Recht der Frauen zu sprechen. Es gibt bei uns ein altes Sprichwort: „Wenn die Frau spricht, spricht als nächstes die Machete“. Dies zeigt, wie schlecht es angesehen war, wenn Frauen überhaupt das Wort ergreifen, und das hat mich auch an meine Kindheit erinnert. Wir haben auch Unterstützungsmärsche organisiert, es war total wichtig, für diese Ideale zu arbeiten, insbesondere für die armen Frauen, sie bei einkommensverbessernden Maßnahmen zu unterstützen, um aus der Armut rauszukommen, und sich dann das Recht zu sprechen anzueignen.

Gibt es aus eurer Sicht einen Zusammenhang zwischen patriarchalen Strukturen und dem Genozid?

Godeliève: Was die männliche Dominanz betrifft, glaube ich nicht, dass sie der Grund des Genozids war, sondern eine schlechte Regierungsführung. Die Dominanz der Männer hat man allerdings an den Checkpoints gesehen, wo nur Männer waren, um dort zu morden. Sobald sie eine Frau gesehen haben, haben sie sie vergewaltigt, haben gesagt, wir bringen deinen Mann und deine Kinder um, aber dich lassen wir am Leben.

Was bedeutet Versöhnung für euch? Gibt es Unterschiede, wenn es um Frauen oder Männer geht?

Godeliève: Die Versöhnung ist schwierig, als würde man das Unmögliche akzeptieren müssen. Aber trotzdem müssen wir an einer positiven Vision festhalten, wir müssen jetzt aufrecht leben. Dafür muss man sich zunächst mit sich selber versöhnen. Denn wir Frauen sind verschiedenen Problemen ausgesetzt: Es gibt den Genozid, die Vergewaltigungen, die HIV-Infizierungen, es gibt den Hass. Es ist wirklich schwierig, das zu akzeptieren, aber es ist auch schwierig, das nicht zu akzeptieren. Mit dem Austausch unter uns Frauen kommt langsam die positive Orientierung zurück, aber jede hat da ihren eigenen Weg, und jeder Weg ist auch für sich richtig. Die, die das „Pardon“ ablehnen, empfinden das als ihren Weg weiterzuleben, die, die das „Pardon“ geben, genauso.

Die Versöhnung zwischen Frauen und Männern ist noch viel schwieriger. Denn wie soll das gehen, sich mit Männern zu versöhnen, die auf einen Schlag deine neun Kinder umgebracht haben, das ist so traumatisierend, das du anfängst zu verallgemeinern. Du siehst dann nicht nur den einen Mann, der deine Kinder umgebracht hat, sondern du siehst alle Männer, die Mörder sind. Sie haben auch deinen Mann umgebracht, das war dein Partner, mit dem hast du alles geteilt, jetzt bist du ganz alleine, du bist isoliert, du bist arm, dein Haus ist zerstört, sie lassen dich zurück wie eine Verrückte auf der Straße. Ich verstehe selber nicht, warum ich nicht verrückt geworden bin, das kann nur Gott wissen. Gleichzeitig sind die Männer im alltäglichen Leben überall präsent, man braucht sie auch, wenn man ein Haus bauen will, wenn man eine Kuh kaufen will, denn die darf man als Frau nicht alleine kaufen. Also die arme Frau muss sich arrangieren, tagsüber wird sie einen pragmatischen Kompromiss finden, aber in der Nacht kommt alles zurück, da kommen die Alpträume, die Depressionen, die Traumata. Wir versuchen, dem zu begegnen, über unsere Strategien, über Tapping (1), Schritt für Schritt, das gegenseitige Gespräch, wir haben keine andere Wahl.

Heißt das, dass die Macht der Männer weiterhin ungebrochen ist, trotz der Fortschritte, die der Film hinsichtlich des Parlaments anspricht?

Florida: Ja, es stimmt, die Quote im Parlament muss bei 30 Prozent für Frauen liegen, aber trotzdem ist es bei Gesetzen so, dass sie meist gemäß der Logik der Männer entschieden werden. Insgesamt haben Männer die besseren Posten. Es war noch nie eine Frau Finanz- oder Verteidigungsministerin, die Schlüsselpositionen haben immer Männer inne – bis heute. Und trotzdem wird versucht, Frauen zu fördern, vor allem ihre Ausbildung.

Ihr habt eben von Versöhnung gesprochen, wie aber verarbeiten die Überlebenden ihre traumatischen Erfahrungen ganz individuell?

Florida: Depressionen gehören eher zur westlichen Welt. In unserer Gesellschaf ist man weniger isoliert. Sich umzubringen, würde schon sehr viel Mut bedeuten, weil man ja immer mit Leuten zusammen ist. Konkret war es so, dass nach dem Genozid alle gleichzeitig angefangen haben, über das Geschehene zu sprechen. Bei dem engen nachbarlichen Zusammenleben konnte man nicht lange schweigen, die persönliche Wiederherstellung des Kontakts musste einfach erfolgen. Entsprechend gab es auch gleich ein Gedenken, die Täter hatten ihre Schuld zugegeben, man wusste genau, wo die Toten waren. Mit der Zeit vergeht der Schmerz, er vergeht langsam, aber die, die das Ereignis nicht akzeptieren, werden immer weiter leiden.

Godeliève: Erinnerst du dich an die Schreie im Stadion, im Film bei der Gedenkzeremonie? Das ist das, was die Leute erleben, die mit ansehen mussten, wie ihre Liebsten getötet wurden, Babys, die kurz nach der Geburt umgebracht wurden, die auf deinem Rücken umgebracht wurden, das sind Leute, die ertragen das nicht, sie werden es niemals ertragen. Aber in unserer Kultur ist es verboten, Tränen zu zeigen. Wenn jemand kommt und fragt, wie es geht, dann sagst du „ach ja, ganz gut“, aber die Folgen sind im Herz und im Kopf, die sieht man nicht. Der traumatische Zustand hat natürlich Konsequenzen, viele Menschen haben schreckliche Kopfschmerzen oder Bluthochdruck, sie müssen die ganze Zeit Medikamente nehmen, es gibt auch Leute, die in der Psychiatrie sind oder Männer, die trinken. Denn es gibt verschiedene Widerstände bzw. Hügel, die du überwinden musst. Es gibt die Scham, dass man seine Liebsten nicht retten konnte. Es gibt den Schmerz, dass du überlebt hast, auch die Täter, die Mörder, haben Schmerzen, sind traumatisiert. Es gibt die Schande, dass man verziehen hat. Die Lösung ist für uns immer Lachen, aber es ist kein echtes Lachen, kein gelebtes Lachen. Wenn wir bei uns in unseren Zentren sind, dann ist es ok, aber sobald wir rausgehen, ist es anders.

Wir danken Euch für das Vertrauen!

Olaf Bernau und Dorette Führer (Nolager Bremen) sind beide bei Afrique-Europe-Interact aktiv.

(1) Tapping ist eine leicht erlernbare Methode, um traumabedingte Stresssituationen bei sich selbst zu lindern: https://www.youtube.com/watch?v=UcyaudlgkGo