EU verlagert Grenze in die Wüste Wie das „Alarmphone Sahara“ Migrant_innen praktisch unterstützen möchte
Beilage von Afrique-Europe-Interact in der bundesweiten Ausgabe der tageszeitung taz (7. Dezember 2017)
8. Februar 2017, Busbahnhof in Ouagadougou, Hauptstadt von Burkina Faso: Nichts geht mehr, der gesamte Fernverkehr in dem westafrikanischen Land ist zum Erliegen gekommen, niemand kann der 11-köpfigen Recherchegruppe von Afrique-Europe-Interact sagen, wann die Busse wieder fahren. Was wie ein ganz gewöhnlicher Arbeitskampf aussieht, hat freilich eine globale Dimension: Nicht die Busfahrer streiken, sondern die Unternehmen. Ihre Aktion richtet sich gegen die zahlreichen Kontrollposten, die die Regierung auf Betreiben der EU entlang der wichtigsten Nationalstraßen neu eingerichtet hat.
Ziel dieser Maßnahme ist es, möglichst viele Migrant_innen auf ihrem Weg Richtung Norden aufzuhalten. Hierfür müssen sich alle Fahrgäste ausweisen. Wer aus dem Ausland kommt, jung ist oder kein konkretes Reiseziel innerhalb Burkina Fasos hat, muss an jedem der Checkpoints eine Art Wegezoll von 5 bis 15 Euro entrichten. Ganz ähnlich an der Grenze zum Niger: Immer wieder wird dort Migrant_innen die Einreise verweigert, auch solchen aus Ländern der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, was einen handfesten Verstoß gegen das bereits 1979 ratifizierte Abkommen zur Reise- und Aufenthaltsfreiheit innerhalb der Ecowas-Zone darstellt. Doch auch die übrigen Businsass_innen sind betroffen: Einerseits, weil die Polizei wegen angeblich mangelhafter Ausweispapiere willkürliche Strafzahlungen verlangt, eine in diesem Ausmaß bislang kaum bekannte Praxis, die vor allem für Kleinhändler_innen und Wanderarbeiter_innen zu empfindlichen Verdiensteinbußen führt. Andererseits, weil es auf den betroffenen Strecken ständig zu stundenlangen Verspätungen kommt. Kurzum: Der von der EU immer rücksichtsloser geführte Kampf gegen die so genannte irreguläre Migration trägt mittlerweile mitten in Westafrika zu einer ernsthaften Beeinträchtigung des Wirtschaftslebens bei. Denn der freie Verkehr von Waren und Personen ist keineswegs nur für die EU ein hohes Gut.
Noch zugespitzter ist die Lage im Niger selbst, Haupttransitland für Migrant_innen aus West- und Zentralafrika: Bereits 140 Millionen Euro hat die nigrische Regierung zur Grenzsicherung von der EU erhalten. Über 600 Millionen Euro sollen es bis 2020 werden, auch für allgemeine Infrastrukturprojekte (bei einem Staatshaushalt von jährlich gerade mal 2,2 Milliarden Euro). Im Gegenzug gehen die Sicherheitskräfte massiv gegen Migrant_innen vor. Grundlage ist ein bereits 2015 beschlossenes Gesetz gegen den sogenannten Menschenhandel, das hohe Freiheits- und Geldstrafen insbesondere für den Transport von Migrant_innen vorsieht. Dutzende Chauffeure sitzen im Knast, die meisten ohne Anklage, hunderte Autos wurden konfisziert, tausende Migrant_innen mussten in der Sahara umkehren, in aller Regel nach Agadez, dem Ausgangspunkt für die Wüstenpassage Richtung Algerien oder Libyen. Wirtschaftlich führt das zu ähnlichen Schäden wie in Burkina Faso, nicht zuletzt für jene Busunternehmer_innen, Vermieter_innen, Kleinhändler_innen oder Garküchenbetreiber_innen, die hauptsächlich von der Transitmigration leben. Viele waren früher im Tourismus tätig, der allerdings vor rund 10 Jahren durch die Ausbreitung terroristischer Gruppen im gesamten Sahelraum kollabiert ist.
Ebenfalls dramatisch ist die Zerstörung des historischen Erbes: Seit dem 8. Jahrhundert hat sich zwischen Nord- und Subsahara-Afrika ein intensiver Karawanen-Handel entwickelt. Wüstenstädte wie Agadez, Gao oder Timbuktu waren Schmelztiegel unterschiedlicher kultureller, ökonomischer und sprachlicher Einflüsse. All dies steht heute auf der Kippe: Die Wüste wird immer stärker militarisiert, ja einem neokolonialen und zutiefst zynischen Kontrollregime unterworfen. So hat die nigrische Armee mit logistischer und finanzieller Unterstützung der EU die lebenswichtigen Brunnen auf den jahrhundertealten Transsahara-Routen besetzt. Konsequenz ist, dass die Chauffeure der Migrant_innenkonvois auf abgelegenes, zum Teil vermintes Gelände ausweichen müssen, etwa durch die Große Sandwüste von Bilma, die bis heute als extrem schwer passierbar gilt. Kommt es hier zu Unfällen, ist Hilfe nur schwer zu organisieren. Ebenfalls gefährlich sind Verfolgungsjagden mit Sicherheitskräften, auch unter Einsatz von Schusswaffen, die teils zu schweren Unfällen führen, teils dazu, dass einzelne Chauffeure größere Migrant_innengruppen panikartig mitten in der Wüste aussetzen. Es dürfte also kaum überraschen, dass die Zahl der Toten in der Wüste buchstäblich explodiert ist. Nicht nur Migrant_innen, sondern auch Akteure wie die UN oder IOM (International Organisation of Migration) glauben, dass dort inzwischen ähnlich viele Menschen sterben wie im Mittelmeer – auch wenn es sich bislang lediglich um grobe Schätzungen handelt.
Vor diesem Hintergrund hat Afrique-Europe-Interact zusammen mit anderen Organisationen aus Marokko, Niger, Mali, Burkina Faso und Togo die Initiative zum Aufbau eines „Alarmphone Sahara“ ergriffen – inspiriert durch das ebenfalls von Afrique-Europe-Interact mitgegründete Watch The Med Alarmphone, einer Notrufnummer für Geflüchtete in Seenot, die seit Oktober 2014 von über 1840 Booten kontaktiert wurde. Vor allem drei Dinge sind geplant: Erstens möchten wir durch Öffentlichkeitsarbeit verhindern, dass sich die Wüste immer stärker zu einem rechtsfreien Raum verwandelt. Entsprechend haben Aktivist_innen des Alarmphone Sahara bereits mehrere Recherchereisen unternommen, zuletzt bis an die libysche und algerische Grenze. Zweitens möchten wir Migrant_innen aktuelle und unabhängige Informationen zur Verfügung stellen. Denn viele sind schlicht deshalb der erpresserischen Willkür durch Polizisten, Soldaten oder Schlepper ausgesetzt, weil sie nicht über korrekte Informationen verfügen – auch was ihre eigenen Rechte betrifft. Dafür sollen mehrsprachige Videos produziert und über soziale Medien verbreitet werden. Zudem ist geplant, Flyer an den großen Busbahnhöfen in den wichtigsten Transitländern zu verteilen, vielleicht auch ein Infotelefon einzurichten. Drittens möchten wir prüfen, inwieweit es möglich ist, bei – per Sattelitentelefon gemeldeten – Notfällen in der nigrischen Wüste eine zivilgesellschaftlich getragene Rettungskette mit Autos aufzubauen. Ob dies wirklich gelingen kann, ist noch offen, zumal es auch eine erhebliche finanzielle Herausforderung wäre, aber wir gehen der Frage ernstlich auf den Grund.
Zurück nach Burkina Faso: Der Busstreik hat letztlich nur 24 Stunden gedauert, danach wurden zahlreiche Kontrollpunkte abgebaut – und zwar bis heute. Dies zeigt, dass dem immensen Druck der EU durchaus erfolgreich Paroli geboten werden kann.