09.02.2023 | Mali im Umbruch – Eindrücke von einer 2-wöchigen Delegationsreise nach Mali

Ich bin seit zwei Wochen mit einer kleinen Delegation unseres Netzwerks Afrique-Europe-Interact in Mali unterwegs (und ab nächster Woche in Niger – bis einschließlich 4. März). In diesem Sinne möchte ich heute einige Eindrücke teilen, die sich aus unseren bisherigen Gesprächen und Begegnungen ergeben haben. Doch beginnen möchte ich mit einem kurzen Hinweis zu unseren Gesprächspartner:innen, deren Einschätzungen die Basis für die hier getroffenen Aussagen abgeben:

Zu diesen gehören erstens unsere Mitstreiteiter:innen von Afrique-Europe-Interact/Mali in Bamako (zwischen 7 und 25 Personen – je nach Zählweise), zweitens eine 20-köpfige Delegation der bäuerlichen Basisgewerkschaft COPON, die für drei Tage vom Office du Niger nach Bamako gekommen ist (da wir aus Sicherheitsgründen nicht ins Office du Niger fahren konnten), drittens drei in Bamako lebende Vertreter:innen der Dörfer Sanamadougou und Sahou (ebenfalls Office du Niger) und viertens ein Pool ganz verschiedener Personen, mit denen wir auf die eine oder andere Weise verbunden sind: Frühere Kolleg:innen und Mitstreiter:innen von Afrique-Europe-Interact, ein befreundeter Schneider, mehrere Ladenbestitzer:innen in unserem Quartier Djellibougou, Nachbar:innen, ein Rechtsanwalt in Rente, ein Bürgermeister aus dem Landkreis Kita, ein Soziologieprofessor etc. Jenseits einiger Privatbesuche haben sämtliche unserer Begegnungen wahlweise im öffentlichen Raum oder im Vereinssitz von Afrique-Europe-Interact stattfunden, wo wir auch wohnen (vgl. Bilder im Anhang).

Zum Inhalt – diesbezüglich möchte ich mich vor allem auf drei Fragen konzentrieren:

+++ Allgemeine Situation: Sicherheitslage und politische Entwicklung

+++ Ökonomische Situation – insbesondere diejenige bäuerlicher Haushalte im Office du Niger

+++ Interkommunitäre Konflikte im Office du Niger

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a) Allgemeine Situation: Sicherheitslage und politische Entwicklung

Was die allgemeine Lage betrifft, sind uns überwiegend jene Einschätzungen, Analysen und Stimmungen begegnet, die bereits seit dem Sturz des vormaligen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita im August 2020 den öffentlichen Diskurs prägen (und die sich auch im einmal jährlich erscheinenden Mali-Mêtre der Friedrich-Ebert-Stifung niederschlagen): Danach scheint eine breite Mehrheit der Bevölkerung weiterhin fest hinter der Übergangsregierung zu stehen – jedenfalls gilt das für jene Menschen aus dem Süden, dem Westen und dem südwestlichen Teil des Zentrums, die wir in den letzten zwei Wochen getroffen haben. Betont wird vor allem die Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage: Es hätte in jüngerer Zeit keine komplexeren Angriffe terroristischer Kräfte mehr auf Kasernen, Militärposten etc. gegeben, zudem hätten die terroristischen Gruppen die Fähigkeit verloren, größere Gebiete zu kontrollieren, was vor vor allem die stark von (dschihadistischem) Alltagsterror betroffenen Bauern und Bäuerinnen im Office du Niger betonen (siehe unten). Die heute beobachtbare Gewalt zeichne sich vielmehr durch geographisch verstreute Angriffe von kleinen Zellen aus, zudem hätte das Banditenwesen erheblich zugenommen, was auch deshalb immer wieder betont wurde, weil viele Banditenangriffe irrtümlicherweise als dschihadistische Gewalt dargestellt würden (unter anderem solche in der Region Kayes).

Keine Frage, diese Einschätzungen zur Sicherheitslage stehen in mehrfacher Hinsicht im krassen Gegensatz zu dem, was in Europa berichtet wird, was unter anderem auf die Notwendigkeit verweist, stärker auf die jeweils einzelnen Länder zu gucken, anstatt primär vom „Sahel“ zu reden. Denn vieles spricht dafür, dass die Sicherheitslage in Burkina Faso deutlich prekärer ist als in Mali – ein Gesprächspartner meinte sogar, dass sich dschihadistische Kräfte aus Mali u.a. nach Burkina Faso zurückgezogen hätten. In diesem Zusammenhang wusste auch ein junger, meist sehr gut informierter Beamter zu berichten, dass die Antiterroreinheiten der Malischen Armee in jüngerer Zeit Schwierigkeiten gehabt hätten, überhaupt noch größere Verbände von Terroristen ausfindig zu machen – stattdessen stünden im aktuellen Antiterrorkampf Kontrollen und die systematische Suche nach Waffen im Vordergrund.

Gleichwohl ist differenzierend anzumerken, dass bestimmte Grenzabschnitte zwischen Mali und Niger bzw. Burkina Faso unter erheblichem Druck terroristischer Gruppen stehen. Zudem haben sich im Norden Malis in jüngerer Zeit die Beziehungen zwischen Regierungen und bewaffneten Gruppen des Algier-Friedensprozesses deutlich verschlechtert, wobei noch nicht ausgemacht ist, wie sich dies auf die allgemeine Sicherheitslage auswirken wird: Vgl. stellvertretend https://www.maliweb.net/la-situation-politique-et-securitaire-au-nord/mali-les-ex-rebelles-de-kidal-et-le-gouvernement-de-transition-a-couteaux-tires-3008865.html

Eine kurze Anmerkung zu den in Europa viel zitierten russischen Kräften: Auffällig scheint mir vor allem zu sein, dass es um diese in unseren Gesprächen kaum gegangen ist, selbst bei jenen Leuten nicht, die ansonsten mit Kritik an der Übergangsregierung nicht sparen. Konkret hat lediglich ein Bauer aus einem Dorf nördlich von Dogofry (in der Nähe der mauratanischen Grenze) berichtet, dass „die Russen“ bei ihnen ein Camp aufgeschlagen hätten und mit Hilfe einer Sprachübersetzungsbox relativ problemlos mit der lokalen Bevölkerung in Bambara kommunizieren könnten. Dieser Hinweis soll natürlich kein Persilschein für das Vorgehen russischer Kräfte sein, allerdings scheint mir die relative Nicht-Präsenz Russlands im malischen Alltagsdiskurs nicht nur auf eine gewisse Unwucht in der europäischen Debatte zu verweisen, sondern auch auf eine Unterschätzung davon, dass die allgemeine Verbesserung der Sicherheitslage viel mit den von Russland getätigten Waffenlieferungen an die malische Armee zu tun hat (das ist paradoxerweise ein ganz ähnliches Szenario wie in der Ukraine).

Zurück zur allgemeinen Lage: Vieles deutet darauf hin, dass die Sicherheitsfrage zahlreiche andere Problemstellungen in den Schatten stellt. Die Menschen scheinen mit den jüngsten Entwicklungen in Punkto Sicherheit derart zufrieden zu sein, dass umgekehrt die Bereitschaft enorm gestiegen ist, die ebenfalls thematisierten Defizite des Transitionsprozesses mehr oder weniger klaglos hinzunehmen. Gleichwohl wäre es verkürzt, lediglich eine tendenziell verbesserte Sicherheitslage einerseits sowie politische und ökonomische Defizite andererseits in den Blick zu nehmen. Denn die politische Anordnung ist ungleich komplexer: Grundsätzlich betonen die allermeisten, dass es seitens der Übergangsregierung einen deutlich spürbaren Willen gäbe, die Dinge anders und effektiver anzugehen als viele ihrer Vorgängerregierungen. Hervorgehoben werden unter anderem (1) der ungleich ernsthafter geführte Kampf gegen Korruption, insbesondere was die großen „Fische“ betrifft – einschließlich der straf- und finanzrechtlichen Verfolgung alter Fälle, (2) die spürbare Verbesserung von öffentlicher Infrastruktur, u.a. beim Bau von Brunnen und Straßen (letzteres betrifft unter anderem die Asphaltierung der provisorischen Pisten zu neu entstandenen Quartieren am Stadtrand von Bamako, (3) die Beseitigung des mafiösen Handels mit Landtiteln (titre foncier) in urbanen Ballungsräumen, die immer wieder zur ungesetzlichen Enteignung armer Haushalte führt (indem die tatsächlichen Besitzer:innen von Parzellen und Grundstücken mittels gefakter Landtitel vertrieben werden), (4) die pünktliche Bezahlung der Gehälter im öffentlichen Dienst und (5) die konsequente Verwendung von Bambara in öffentlichen Stellungnahmen der Regierung, und zwar mit dem Effekt, dass deutlich mehr Menschen das Handeln der Regierung nachvollziehen können als in jenen Zeiten, in denen sich der Präsident ausschließlich auf französisch öffentlich geäußert hat. Oder anders formuliert: Die Menschen fühlen sich heute stärker mitgenommen als früher. Darüber hinaus scheint in der Bevölkerung ein hohes Bewusstsein darüber zu bestehen, dass die aktuellen Entwicklungen nicht umstandslos der Übergangsregierung angelastet werden können. Beispielsweise wird fast unisono darauf verwiesen, dass es eine globale Inflation gäbe. Und auch ist unstrittig, dass die bewaffneten Konflikte Unsummen von Geld verschlingen, was ein weiterer Grund dafür ist, weshalb viele Menschen die verbesserte Sicherheitslage als Verdienst Nr. 1 der Regierung hervorheben – einfach deshalb, weil sie ganz genau wissen, dass sich die ökonomische Lage erst verbessern wird, wenn die Sicherheitskrise halbwegs im Griff ist.

Zu den Kritiken: Diese gibt es natürlich auch – auch jenseits der bereits erwähnten Spannungen zu bestimmten (Azawad-)Strömungen im Norden (siehe oben). Allerdings empfinde ich sie als relativ minoritär oder sie gelten als geringfügig gegenüber den Erfolgen der Übergangsregierung. Zu den am häufigsten erwähnten Punkten gehört all das, was im europäischen Mali-Diskurs gemeinhin im Zentrum steht: (1) Grundlegende Einschränkungen der persönlichen Rede-, Versammlungs- etc. freiheiten, (2) übermäßig konfrontative Vorgehensweisen gegenüber dem Ausland (Frankreich, Elfenbeinküste etc), (3) fragwürdige Kooperationen mit neuen Partnerländern wie Russland, Türkei, (4) schwaches Regierungshandeln der Übergangsregierung etc. etc. Zur Wahrheit gehört unterdessen auch, dass einige derjenigen, die diese und ähnliche Kritiken formulieren, nicht selten relativ ungeschminkt sprechen, auch in der Öffentlichkeit, was seinerseits deutlich macht, dass Mali weit davon entfernt ist, diktatorisch erstickt zu werden. Und doch: Unstrittig ist, dass in den genannten Bereichen bei weitem nicht alles rund läuft (das stellen nach unserer Erfahrung auch entschiedene Parteigänger:innen der Übergangsregierung nicht in Frage), aber es gehört zum Verständnis der Gesamtsituation, dass diesbezüglich die Prioritäten anders gelagert sind als in Europa. Oder allgemeiner fomuliert: An diesem Punkt scheint eine den Umständen geschuldete Ambivalenztoleranz angebracht zu sein, die ja auch durch die Bevölkerung selbst aufgebracht wird.

Zu den Kritiken gehört des Weiteren, dass die häufig gepriesenen Erfolge der Übergangsregierung Schall und Rauch seien, zumal die Mehrheit der Menschen wahlweise nicht die Wahrheit sagen würde (aus Angst, dass ihr dies zum Nachteil gereichen könnte) oder aber nicht verstünde, was hinter den Kulissen tatsächlich geschehe, etwa was interne Machtkämpfe im Militär oder fehlende Investitionen und Kapitalflucht seitens (malischer) Unternehmer:innen betrifft. Nach meinem Empfinden sind derartige Überlegungen keineswegs im Bausch und Bogen zu verwerfen, doch all zu oft kommen sie als polemisches, stark überzeichnetes Advokatus Diaboli-Gehabe daher, was es wiederum schwierig macht, ihre tatsächliche Stichhaltigkeit angemessen zu würdigen. Und das umso mehr, als ja gerade im vergangenen Jahrzehnt insbesondere die jüngeren Generationen im Sahel einen ganz offensichtlichen Emanzipations- und Selbstermächtigungsprozess durchlaufen haben und es daher hochgradig fragwürdig ist, großen Teilen der Bevölkerung mehr oder weniger pauschal ein adäquates Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklungen abzusprechen.

Schließlich gibt es noch die Kritiken seitens des etablierten Parteienspektrums, das zwar national nicht mehr all zu viel zu sagen hat, aber zahlreiche Bürgermeister:innen etc. stellt. Sie zielen in erster Linie darauf ab, die Nicht-Legitimtität der Übergangsregierung zu betonen, häufig unterstrichen durch den Hinweis, dass die geplante Verfassungsänderung (samt Referendum) nicht die Voraussetzung für die nächsten Wahlen darstellen dürfe, sondern erst nach freien und transparenten Wahlen erfolgen sollte. Ob eine solche Kritik tatsächlich plausibel ist, sei mal dahingestellt – denn eines der Ziele der Verfassungsänderung besteht ja gerade darin, freie und transparente Wahlen zu ermöglichen, und dabei vor allem sicherzustellen, dass alle gesellschaftlichen Gruppen angemessen vertreten sind. Nein, wichtiger ist für mich, dass diese Kritik von den allermeisten Menschen strikt zurückgewiesen wird. Auch der bereits erwähnte junge Beamte (der selber Mitglied einer 2018 gegründeten Partei ist), wies mit nüchternem Blick darauf hin, dass es vor allem die etablierten Parteien gewesen seien, die die aktuelle Krise zu verantworten hätten und dass ihre Kritiken in erster Linie mit Besitzstandswahrung zu tun hätten, also mit dem wohlfeilen Wunsch, den bisherigen Wahlmodus beizubehalten, da ihnen dieser in die Hände spielen würde.

Was mich zu einem letzten Punkt bringt: Die Rückbesinnung auf die Geschehnisse in den 1990er Jahren ist für viele unserer Gesprächspartner:innen zu einem der wichtigsten Bausteine in ihrer Gegenwartsanalyse geworden. Denn die damals eingeführte Mehrparteiendemokratie westlichen Typs wird mittlerweile ganz wesentlich für die Explosion von Korruption, Unterschlagung, Laxheit etc. etc gemacht, viel stärker als die zeitgleich laufenden IWF-Strukturanpassungsprogramme seit Ende der 1980er Jahre. Eigentlich ist diese Kritik nicht neu, neu scheint mir jedoch (wenn ich die heutige Situation mit der Diskurslandschaft 2015 oder 2010 vergleiche), dass mittlerweile große Teile der Gesellschaft genau diese Zusammenhänge herstellen, auch mit Blick auf die häufig getätigte Feststellung, dass Wahlen und Mehrparteienwettbewerb keinesfalls die einzige Quelle von Legitimität darstellen würden.

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b) Ökonomische Situation, insbesondere diejenige bäuerlicher Haushalte im Office du Niger

Dieser Punkt ist eigentlich selbsterklärend, und doch sollte er keineswegs unerwähnt bleiben: Die ökonomische Lage in Mali hat sich in den letzten 3 Jahren krass zugespitzt – vor allem durch extreme Preissteigerungen: Erst kam Covid, dann die von der ECOWAS verhängten Sanktionen und schließlich der Ukraine-Krieg. Doch das ist nicht alles. Erschwerend kam hinzu, dass 2022 die Ernteerträge katastrophal schlecht ausgefallen sind, vor allem dort, wo die bäuerlichen Haushalte auf Kunstdünger angewiesen sind (wie beim Reisanbau im Office du Niger). Hintergrund ist ein vierfacher: Erstens war der Staat im Zuge der allgemeinen Krise nicht in der Lage, die Subventionen für Kunstdünger im gewohnten Umfang bereitzustellen; zweitens konnten die bäuerlichen Haushalte aufgrund der allgemeinen Preissteigerungen das durch den Staat gerissene Subventionsloch nicht kompensieren und mussten daher den Einsatz von Kunstdünger schlicht runterfahren; drittens war der tatsächlich gelieferte Kunstdünger von äußerst schlechter Qualität, denn im Zuge der Sanktionen sahen sich die zuständigen Stellen gezwungen, an einer neuen Zusammensetzung des Düngers zu arbeiten, sind dabei aber in agrartechnischer Hinsicht völlig gescheitert; und viertens hat klimawandelbedingter Starkregen (der obendrein sehr früh erfolgt ist) dazu geführt, dass zu Beginn der letztjährigen Anbauphase frische Anbaukulturen (darunter Reissetzlinge) sowie gerade eingebrachter Dünger mehrfach abgetragen wurden. Konsequenz waren katastrophale Ernteergebnisse, wie die Bauern und Bäuerinnen aus dem Office du Niger berichten: Während ein Hektar normalerweise 75 Sack Reis erbringt, waren es 2022 bei vielen Haushalten gerade mal 5 bis 15 Sack. Zusammen mit der allgemeinen (so gut wie alle Güter des täglichen Bedarfs betreffende) Teuerung hat das dazu geführt, dass viele bäuerliche Haushalte bereits jetzt im Januar unter akuter Lebensmittelknappheit leiden und nicht erst im Juni/Juli, wie das oftmals der Fall ist. Folgerichtig haben viele Haushalte die Schlussfolgerung gezogen, zusätzliche Familienmitglieder in die regionale Migration zu schicken und außerdem in der aktuell laufenden Contre-Saison ungleich mehr anzubauen (teilweise auch Reis) als üblich, wobei dies nur gelingen dürfte, wenn der Niger trotz der regenarmen Zeit hinreichend viel Wasser führen wird, um das Kanalsystem des Office du Niger mit Wasser zu versorgen. Erst wenn man diese Entwicklungen mit den ökonomischen Auswirkungen der Sicherheitskrise zusammendenkt, wird nachvollziehbar, weshalb Mali derzeit eine existentielle wirtschaftliche und somit auch soziale Krise durchlebt (die natürlich auch im Crash enden kann). Und das wiederum mit der Konsequenz, wie viele unserer Gesprächspartner:innen betonten, dass die von dschihadistischen oder kriminellen Terrorgruppen angebotenen Verdienstspannen von 300.000 bis 400.000 Franc CFA pro Monat zumindest für manche junge Menschen eine riesige Verlockung darstellen.

Last but not least: In diversen Gesprächen ging es darum, dass viele Malier:innen die seit Jahren anhaltende und durch die Sanktionen einmal mehr zugespitzte Krise einzig deshalb mit großer Gelassenheit hinnehmen würden, weil sie den Erfolg der aus einem Doppelputsch hervorgegangenen Transition nicht gefährden wollten. Dieses Selbstverständnis scheint mir insofern äußerst wichtig zu sein, weil es begreifbar macht, wie überspitzt, mithin irreführend es ist, wenn in westlichen Medien der Übergangsregierung immer wieder vorgehalten wird, dass sie mittels nationalistischer bzw. patriotischer Diskurse die Bevölkerung hinter sich vereinen wollte. Denn dieser Blickwinkel verkennt, dass viele Menschen von der grundsätzlichen Richtigkeit des Transitionsprozesses überzeugt sind – einschließlich der Zusammenarbeit mit Russland, die viele jedoch primär unter dem Aspekt von Waffenlieferungen betrachten.

Nachtrag: Ein Wort noch zu unseren eigenen Aktivitäten: Als Afrique-Europe-Interact haben wir beschlossen, den Mitgliedern der bäuerlichen Basisgewerkschaft COPON (rund 200 Haushalte mit rund 3.000 Mitgliedern in 24 Dörfern) – jenseits der eigentlichen Zusammenarbeit – Sofortunterstützung von 6.000 Euro bereitzustellen (50 Kilo Reis pro Haushalt) sowie im nächsten Anbaudurchgang (ab Mai/Juni) einen Düngerkredit zu gewähren. Das ist zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, gleichzeitig hoben mehrere Mitglieder der COPON hervor, dass Hunger nicht nur ein physisches, sondern auch ein psychologisches Problem darstelle und dass daher jede Form der Unterstützung willkommen sei.

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c) Interkommunitäre Konflikte im Office du Niger

Die Krise in ländlichen Regionen wie dem Office du Niger geht immer wieder mit interkommunitären (vulgo: ethnischen) Konflikten einher, zumal dschihadistische Terrorgruppen diesbezügliche Spannungsverhältnisse bewusst anzufachen versuchen. Wir haben daher bei unserem Treffen mit der COPON einzelne Mitglieder gefragt, wie sie die Lage in ihren Dörfern einschätzen würden. Dabei ging es nicht zuletzt um die Situation der Peulh, die überwiegend – nicht aber ausschließlich – als Viehhirt:innen tätig sind. Denn viele der (dschiadistischen) Terrorgruppen im Zentrum Malis setzten sich überproportional stark aus Angehörigen der Peulh zusammen. Entsprechend wird in zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kreisen (in Europa) häufig die Sorge formuliert, dass es früher oder später zu unkontrollierten oder gar genozidären Übergriffen auf die Peulh kommen könnte, auch seitens von Sicherheitskräften.

Einer unserer Gesprächspartner lebt in einem zu Dogofry gehörigen Dorf im Norden des Office du Niger. Zur allgemeinen Sicherheitslage meinte er, dass mittlerweile die dorfnahen Felder wieder aufgesucht werden könnten, die weiter entfernten Felder aber noch nicht, da dort bewaffnete Gruppen weiterhin Bauern und Bäuerinnen angreifen würden. Entsprechend gelte, dass Peulh, die nicht bereits Teil der Bevölkerung von Dogofry seien, das Dorf zur Zeit nicht betreten könnten – schlicht deshalb, weil es eine Art verallgemeinerter Angst gegenüber unbekannten Peulh gäbe. Die Dschihadisten seien in den Wäldern nördlich von Dogofry unterwegs. Und auch wenn klar sei, wo sie sich ungefähr aufhalten würden, könnten sie nicht so einfach gestellt werden, da die Region zu groß sei. Neben den Aktivitäten der Armee schlug unser Gesprächspartner als Lösung lokale Friedensprozesse vor. Gefahr für eine ethnische Eskalation sieht er nicht, denn die Bevölkerung würde die Peulh nicht pauschal verdächtigen, sondern nur diejenigen Peulh, von denen unklar sei, woher sie kämen und wer sie seien.

Ähnlich argumentierte auch ein zweiter Gesprächspartner, der ebenfalls in einem etwas größeren Dorf im Norden des Office du Niger lebt. Peulh, die – wie er selbst – schon lange im Dorf wohnen würden, hätten nicht die geringsten Probleme. Und jene Peulh, die die Terroristen selber ablehnen würden, könnten ebenfalls ohne Probleme ins Dorf kommen und sich niederlassen – allerdings nur unter zwei Voraussetzungen: Einerseits, dass sie nicht die typisch blauen Kleider der Peulh tragen und andererseits, dass sie nicht Fulfulde (die Sprache der Peulh) sprechen würden. Denn beides würde für die restliche Bevölkerung wie (Angst-)Trigger wirken. Umgekehrt würden die, die in den (Peulh-)Weilern blieben, als potentielle Terrorunterstützer:innen wahrgenommen werden. Gleichwohl wies er die von Menschenrechtsorganisationen häufig formulierte Kritik an massiven Übergriffen gegenüber Peulh als überzogen zurück. Grundsätzlich meinte auch er, dass sich die allgemeine Lage deutlich verbessert hätte, auch wenn die weiter entfernten Felder weiterhin nicht zugänglich seien. Oft sei gar nicht genau klar, ob die Dschihadisten tatsächlich Gewalt gegenüber Bauern und Bäuerinnen ausüben würden, meist würde es ausreichen, dass sie mit Gewehren auftauchten, das würde die Menschen bereits extrem verunsichern. Konkret ging er noch einen Schritt weiter: Nach ihm wüsste die Bevölkerung ganz genau, wer die Terroristen seien bzw. wo sie sich aufhielten, allerdings traue sich kaum jemand, die Dschihadisten zu denunzieren, einfach aus Angst vor Racheaktionen gegenüber dem gesamten Dorf. In diesem Zusammenhang berichtete er auch, dass die aus kleinen Dörfern oder Weilern geflohenen Bewohner:innen bis heute Angst hätten zurückzukehren, weil die Situation weiterhin unberechenbar sei. Gleichzeitig hob er hervor, dass die malischen Sicherheitskräfte die Situation Schritt für Schritt unter Kontrolle bringen würden.

Ein dritter Gesprächspartner kann als eine Art Communityleader bezeichnet werden. Er ist Bambara-Bauer, unterhält aber seit Jahrzehnten sehr enge Verbindungen zur Peulh-Community im Office du Niger, auch auf familiärer Ebene. Laut seiner Einschätzung würde er von Peulh niemals angegangen werden, allerdings zeigte er sich ungewöhnlich empört über einige der jüngsten Entwicklungen innerhalb der Peulh-Community. Es hätte sich ein rücksichtsloses Banditenwesen herausgebildet, das auf Dominanz ziele. Bei einem Treffen mit staatlichen Repräsentant:innen hätten einige lokale Peulh-Führer sogar das gesamte Office du Niger als ihr (historisches) Siedlungsgebiet reklamiert – unter Ausblendung der bereits seit Jahrhunderten praktizierten Komplementarität der Lebens- und Wirtschaftsweisen im Zentrum des heutigen Mali. Bemerkenswert an diesen Ausführungen war vor allem, dass besagter Communityleader bislang stets mit großem Verständnis bezüglich der Peulh argumentiert hat, vor allem, was die vielfältigen Diskriminierungen (halb-)nomadischer Viehhirten-Gemeinschaften betrifft, dass er nun aber der aktuellen Situation ganz offenkundig überdrüssig ist. Insofern dürften seine Beobachtungen bzw. Einschätzungen auch Ausdruck davon sein, dass es zumindest punktuell zu echten Fehlentwicklungen gekommen ist, auch auf Seiten der Peulh – womöglich auch zu einer Art identitärem Selbstverlust einiger Peulh-Gemeinschaften, in diesem Fall hinsichtlich des Verständnisses für die Notwendigkeit komplementärer Wirtschafts- und Lebensweisen in einer Region wie dem Sahel.

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d) Schließlich

Es war keineswegs zufällig, dass ich eingangs lediglich von „Eindrücken“ geredet habe, die ich in dieser Mail teilen wollte. Denn ich muss ganz offen zugestehen, dass ich mir mit vielen der hier getroffenen Einschätzungen nicht wirklich sicher bin. Beispielsweise habe ich heute Nachmittag (nachdem ich den vorliegenden Text bereits fertig geschrieben hatte) rund eine Stunde mit einem jener „jeune diplômé“ geredet, auf den eigentlich das weiter oben erwähnte Charakteristikum des Advokatus Diaboli-Gehabe zutrifft. Und dabei bin ich innerlich immer wieder ins Schwanken gekommen, habe mich am Ende aber gegen sein düsteres Sittengemälde des aktuellen Transitionsprozesses entschieden, einfach deshalb, weil er auch auf mehrfaches Nachfragen hin keinen einzigen Vorschlag zu der Frage parat hatte, worin denn eine Alternative zum aktuellen Transitionsprozess bestünde – ohne dabei jedoch auf auf meinen Vorschlag einzugehen, sich lieber um eine Verbesserung des aktuellen Prozesses zu bemühen, als diesen grundsätzlich in Frage zu stellen…

Und an dem zuletzt Gesagten hat sich auch 4 Tage später nichts geändert: Wir hatten gestern ein längeres Gespräch mit einem der bekanntesten (linken) politischen Intellektuellen in Mali (dessen Name ich nur deshalb nicht benenne, weil ich mir nicht ausdrücklich die Erlaubnis geholt habe, ihn zu zitieren): Er sprach eine Stunde lang über die Erfolge (réussites) und Irrtümer (erreurs) der Transition: Zu den Erfolgen gehört seines Erachtens in erster Linie die verbesserte Sicherheitslage und die Bereitschaft, einen zumindest ernst gemeinten Neuanfang bei der Reformierung der staatlichen Institutionen zu wagen. Gleichzeitig kritisierte er mangelnde Visionen der Übergangsregierung („die Militärs seien keine Sankaras“), mangelnde Offenheit für den politischen Streit und die Tatsache, dass die Militärs in ihren eigenen Reihen viel zu viele höhere Offiziere dulden würden, die noch unter dem korrupten Regime von Ibrahim Boubacar Keita (2013 bis 2020) auf ihre Posten gelangt seien. Ganz ähnlich ein ebenfalls bekannter Intellektueller, der als Soziologe an der Uni in Bamako lehrt und mit dem wir heute eher zufällig für ein Gespräch zusammengekommen sind. Er ließ an vielen der jüngsten Entwicklungen ebenfalls kein gutes Haar, meinte aber – genauso wie unser zuvor zitierter Gesprächspartner –, dass er die Finger für den Erfolg der Transition kreuzen würde (croiser les doigts), denn im Kern sei diese alternativlos. Bemerkenswert war zudem, dass er herzlich über die heutige taz-Überschrift „Achse Bamako-Moskau“ lachen musste, wobei mir zum Zeitpunkt unseres Gespräches noch nicht klar geworden war, dass es sich um ein Zitat des malischen Außenministers handelt. Dennoch war seine Deutung bemerkenswert: Der Westen käme einfach nicht damit klar, so seine relativ saloppen Worte, dass sich die Malier:innen nicht mehr den entwicklungs- und sicherheitspolitischen Vorgaben auf dem Westen unterwerfen wollten, sondern begonnen hätten, eigene Pläne zu schmieden (Diversifzierung der Partner – gagner-gagner)…