23.06.2023 | Warum die UN-Friedensmission MINUSMA in Mali gute Arbeit geleistet hat und dennoch scheitern musste

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Wer die politischen Debatten in Mali in den letzten Jahren verfolgt hat, konnte spätestens seit dem Sturz von Präsident Ibrahim Boubacar Keita im August 2020 ahnen, dass Mali früher oder später die Notbremse ziehen und die Kooperation mit der UN-Friedensmission Minusma aufkündigen würde. Denn die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Minusma ist seit 2014 kontinuierlich gewachsen – und dabei haben bereits früh viele jener Fragen eine maßgebliche Rolle gespielt, die Außenminister Abdoulaye Diop nunmehr im UN-Sicherheitsrat als Ausstiegsgründe genannt hat. Umso irritierender sind die Reaktionen, mit denen die Entscheidung auf westlicher Seite in den vergangenen Tagen kommentiert wurden. Denn die Verantwortung wird überwiegend auf der malischen Seite verortet, etliche Beobachter:innen meinen zudem, dass es sich bei der (zum aktuellen Zeitpunkt) unerwarteten Ankündigung um einen „souveränistischen“ Schachzug der aus einem Doppelputsch hervorgegangenen Übergangsregierung gehandelt habe, um die Bevölkerung für ein „Ja“ zum neuen Verfassungsentwurf zu gewinnen, über den vergangenen Sonntag in einem Referendum abgestimmt wurde.

Andere Kommentator:innen konzentrieren sich in erster Linie auf die enge Zusammenarbeit der malischen Sicherheitskräfte mit russischen (Wagner-)Söldnern bzw. Militärausbildern. Betont wird vor allem der Umstand, dass es im Antiterrorkampf 2022 mehr zivile Opfer gegeben habe als in den vorangegangen Jahren. Und das wiederum weise darauf hin, dass die malische Regierung die Kooperation mit Minusma insbesondere deshalb aufgekündigt habe, weil ihr der UN-Bericht über das mutmaßliche Massaker malischer und russischer Sicherheitskräfte im März 2022 in dem Dorf Moura im Zentrum Malis nicht gepasst hätte (https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/05/malian-troops-foreign-military-personnel-killed-over-500-people-during).

Demgegenüber ist von westlicher Selbstkritik kaum etwas zu hören. Vor allem die verhängnisvolle Arbeitsteilung zwischen Minusma und der französischen Anti-Terror-Operation Barkhane spielt in den Analysen allenfalls am Rande ein Rolle. Mehr noch: Die seit Jahren geführte Debatte um das „Scheitern des Westens“ – und somit auch die im Sahel enorm populäre Forderung nach einer multipolaren Weltordnung – ist auf eigenartige Weise abwesend (vgl. hierzu meinen taz-Kommentar „Zeitenwende in Mali“: https://taz.de/Westliche-Politik-in-der-Sahel-Zone/!5924684/). Es scheint, als ob Mali ein lokaler Konfliktherd sei – ohne Verbindung zu den großen Fragen der Zeit. Hierzu passt, dass in den sozialen Netzwerken – in grotesker Ausblendung der seit 2013 in Mali begangenen Fehler – heftig darüber debattiert wird, ob die von der sogenannten Militär“junta“ aufgekündigte Kooperation mit Minusma nicht schlicht ignoriert werden sollte. Denn die derzeitige Übergangsregierung sei – so ein häufig geteilter Text von @PDWilliamsGWU & @WilenNina (https://www.egmontinstitute.be/the-un-security-council-and-the-future-of-Minusma/) – de jure nicht die legitime Regierung Malis (weil aus einem Putsch hervorgegangen), eine Haltung, die geflissentlich darüber hinwegsieht, dass sich die Übergangsregierung nach übereinstimmenden Berichten aller Beobachter:innen großer Unterstützung in der Bevölkerung erfreut (laut jüngstem Mali-Mètre der Friedrich-Ebert-Stiftung 95 Prozent: https://mali.fes.de/e/mali-metre-2023). Kurzum: Es liegt nahe, den Ausstiegsbeschluss der malischen Regierung in ein größeres Bild einzuordnen. Nicht, um sogenannte „Regimediskurse“ nachzuplappern, wie es bisweilen heißt, sondern um richtige Schlussfolgerungen für die (unmittelbare) Zukunft ziehen zu können.

Zum Einstieg: Ich selbst bedauere das Ende der UN-Friedensmission Minusma sehr. Denn Minusma hat – bei aller notwendigen Kritik – wichtige Arbeit geleistet: Sie hat die Friedensgespräche des Algier-Friedensabkommens koordiniert und so zu einer spürbaren Beruhigung der Konfliktdynamik im Norden beigetragen – gerade in jenen Jahren, als sich die Lage im Zentrum des Landes zuspitzte. Sie hat Sicherheitsinseln geschaffen und so immer wieder die Zivilbevölkerung geschützt. Längst nicht alle Menschen haben davon profitiert, aber Minusma dürfte zahlreiche Massaker verhindert haben, was in einer offenen Eskalationsdynamik enorm wichtig ist. Sie hat umfassende humanitäre Hilfe geleistet, etwa bei der Evakuierung schwer verletzter malischer Soldat:innen oder bei Nahrungsmittellieferungen für Dörfer, die im Zentrum Malis von Dschihadisten belagert wurden. Und sie hat vierteljährlich über den Zustand des Landes Bericht erstattet und so nicht nur der malischen Gesellschaft, sondern auch der internationalen Staatengemeinschaft wertvolle Hinweise gegeben, wo und wie weitergearbeitet werden sollte.

Umso tragischer ist, dass all dies nunmehr zur Disposition steht – einschließlich der Gefahr, dass sich die Sicherheitslage erheblich verschärfen könnte (vgl. hierzu die Sonderausgabe des „Sahel Echos“-Newsletters zur Situation im Norden Malis: https://mailchi.mp/27415ab6ae3e/sahel-news-round-up-20284044?e=bbc7ee8c35). Gleichzeitig ist festzuhalten, dass auch Minusma zahlreiche Fehler begangen hat, darunter solche, die nicht unmittelbar mit Minusma zu tun haben, die aber Minusma zugeschrieben werden: Am fatalsten dürfe der Umstand gewesen sein, dass Minusma von Anfang an als Gegenstück zur hochgradig kontraproduktiven französischen Anti-Terror-Operation Barkhane konzipiert wurde – mehr noch, dass Frankreich in beiden Missionen den Ton angegeben und sich sogar systematisch auf Dienstleistungen von Minusma für Barkhane gestützt hat. Denn dadurch wurde Minusma auch für die Fehler von Barkhane in Haftung genommen, und das umso mehr, als sich Minusma nicht um eine angemessene Kommunikation gegenüber der Bevölkerung bemüht hat. So wurde in Mali schon 2013/2014 der Umstand kritisiert, dass die französische Armee im Rahmen von Barkhane in alter, aus Kolonialzeiten stammender Aufstandsbekämpfungsmanier die enge Kooperation ausgerechnet mit jenen Tuareg-Kämpfern gesucht hat, die Anfang 2012 zusammen mit Al Quaida-Terroristen den Aufstand im Norden Malis geprobt und somit die Konfliktdynamik überhaupt erst losgetreten hatten – ein Umstand, der in Mali genauso wenig akzeptiert wurde wie die einige Jahre später im Grenzgebiet zu Niger erfolgte Zusammenarbeit mit den beiden Milizen Groupe d’Auto-défense des Tuareg Imghad et Alliés (GATIA) und Mouvement pour le Salut de l’Azawad (MSA) (https://afriquexxi.info/Aux-origines-coloniales-de-l-operation-Barkhane + https://www.swp-berlin.org/publikation/deutschlands-und-frankreichs-erfolgloses-engagement-in-libyen-und-mali). Dies zu betonen ist wichtig, denn der Vorwurf der ethnischen Spaltung ist alt, er wurde nicht erstmalig im Kontext von Moura formuliert, wie es zahlreiche der aktuellen Statements nahelegen. Vielmehr hatten die Menschen in Mali schon lange das Gefühl, dass die westlich dominierte Aufstandsbekämpfungsstrategie die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen ungünstig beeinflussen – nicht zuletzt zwischen Tuareg und Peul, aber auch zwischen Tuareg und der übrigen Gesellschaft. Insofern wurde auch nie akzeptiert, dass die Tuareg die im Nordosten liegende Stadt Kidal mit Duldung von Minusma und Barkhane de facto regiert und gleichzeitig die malischen Behörden an der Erfüllung ihrer staatlichen Aufgaben gehindert haben. Vor allem der Umstand, dass die Delegation von Premierminister Mousa Mara im April 2014 bei einem Besuch von (Ex-)MNLA-Rebellen angegriffen wurde (mit zahlreichen Toten und Verletzten) wurde hart kritisiert, und das umso mehr, als dies auf westlicher bzw. französischer Seite zu keinerlei Kurswechsel geführt hat. Als sich 2015/2016 die Krise im Zentrum ausweitete, wurde Kritik am fehlenden robusten Schutz für die Zivilbevölkerung immer stärker, ohne dass sich Minusma oder die malische Regierung ernsthaft bemüht hätten, die Bevölkerung darüber aufzuklären, weshalb die UN-Friedensmission (aus guten Gründen, wie ich finde) kein Kampfmandat hatte. Weitere Kritikpunkte lauteten, dass westliche Länder weder die zur Antiterrorbekämpfung notwendigen Waffen geliefert noch das malische Militär ernsthaft in Kämpfe gegen Terroristen eingebunden hat (letzteres ist vor allem auf Frankreich gemünzt). Und in die gleiche Rubrik gehörten auch die viel zitierten EUTM-Trainings malischer Soldat:innen mit Holzwaffen, weil die europäischen Ausbilder der malischen Armee nicht trauten. Schließlich kamen noch die von Frankreich mit unterstützten ECOWAS-Sanktionen in der ersten Jahreshälfte 2022 hinzu und jüngst die völlig unterschiedliche Wahrnehmungen davon, wie die Ereignisse von Moura einzuschätzen seien. Sicherlich, formal sind Minusma und Barkhane, EUTM, Sanktionen etc. nicht das gleiche, aber wer verstehen möchte, wie es zur gesellschaftlichen Delegitimierung von Minusma gekommen ist, muss zur Kenntnis nehmen, dass sich nicht nur in Mali, sondern auch in Niger und Burkina Faso in den letzten Jahren vor allem unter jungen Leuten ein Diskurs entwickelt hat, der die verschiedenen Dinge stärker zusammendenkt. Und hierzu gehört auch die systematische Berücksichtigung des ganz großen Bogens – angefangen vom kolonialen Erbe, über die Unterstützung korrupter Eliten durch den Westen, die fatalen, bis heute spürbaren Effekte der IWF-Strukturanpassungsprogramme in den 1980er und 1990er Jahren bis hin zur restriktiven Migrationspolitik und zu den vielfältigen Auswirkungen der Klimakrise in der Gegenwart.

Oder zugespitzter formuliert: Der gesamte Einsatz stand schon früh unter einem ungünstigen Stern: Es war zwar gut, dass 2013 nach der französischen Militärintervention Serval Minusma eingesetzt wurde. Es war aber falsch, dass die ehemalige Kolonialmacht Frankreich federführende Kraft sowohl bei Minusma als auch bei der aus Serval hervorgegangenen Anti-Terror-Operation Barkhane war, anstatt dass die malischen Sicherheitskräfte von der ersten Sekunde an systematisch in den Stand gesetzt worden wären, selber Verantwortung zu übernehmen – so wie es jüngst Jean-Pierre Olivier de Sardan in seinem Text „Sahel. Pour une réforme radicale des armées nationales“ ausbuchstabiert hat – ausgehend unter anderem von der These, dass ein Anti-Terrorkampf nicht maßgeblich von ausländischen Kräften geführt werden könne (https://afriquexxi.info/Sahel-Pour-une-reforme-radicale-des-armees-nationales). Und falsch war ebenfalls, dass weder Minusma noch die vom Westen unterstützte Regierung von Ibrahim Boubacar Keita angemessen kommuniziert hat: Die Bevölkerung wurde oft zu Statist:innen erklärt, sodass in ihren Augen irgendwann gar kein Unterschied mehr zwischen Minusma und Barkhane bestand. Lange genoss Minusma in den nördlichen Landesteilen höhere Zustimmungraten als im Süden, einfach, weil die Menschen täglich erlebt haben, dass die Präsenz von Minusma einen Unterschied macht. Aber insgesamt hat diese Zustimmung zu Minusma immer stärker abgenommen, während umgekehrt die Offenheit für eine Kooperation mit Russland stetig anstieg – sowohl was russische Waffenlieferungen betrifft als auch hinsichtlich der Kooperation mit russischen (Wagner-)Söldnern bzw. Militärausbildern.

Nur wer diese spätestens 2013 begonnene Geschichte systematisch berücksichtigt (anstatt ausschließlich die Zeit seit den beiden Putschen in den Blick zu nehmen), kann sinnvoll bestimmen, worin für westliche Länder weitere Schritte bestehen könnten. Es gilt, endlich die Bereitschaft zu entwickeln, der malischen Bevölkerung zuzuhören, und das bedeutet keineswegs, dass man nicht kontrovers diskutieren oder konkrete Probleme benennen dürfte. Aber gefragt ist jener Grundrespekt, den der malischen Außenminister Abdoulaye Diop immer wieder anmahnt. Und in diesem Kontext geht es auch um einen offenen Dialog. Erforderlich ist, ernsthaft nachzuvollziehen, welche Lösungswege von malischen Akteuren vorgeschlagen werden. Und das bedeutet auch zu begreifen, weshalb die Ereignisse in Moura von den allermeisten Menschen in Mali anders eingeordnet werden als von westlichen Ländern (vgl. das aktuelle Radio-Feature „Eure Demokratie wollen wir nicht“ von Bettina Rühl: https://www.ardaudiothek.de/episode/dlf-doku-deutschlandfunk/eure-demokratie-wollen-wir-nicht-mali-nach-den-militaerputschen/deutschlandfunk/94522258/) und weshalb es anmaßend ist, wenn sich ausgerechnet Europa als jene Kraft inszeniert, die den seit Jahrhunderten gewachsenen (und in komplementären sozialen Logiken verankerten) „cohésion sociale“ Malis verteidigen müsste, während sie gleichzeitig den malischen Sicherheitskräften und der Übergangsregierung die maßgebliche Verantwortung für die zum Teil ethnisch grundierte Gewaltspirale zuschiebt, anstatt die (dschihadistischen) Terroristen in Haftung zu nehmen, die die bereits seit langem bestehenden Spannungsverhältnisse innerhalb der Bevölkerung für eigene Interessen gezielt instrumentalisieren und so auch zur Entstehung jener Selbstverteidigungseinheiten beitragen, die ihrerseits schwerwiegende Fehler, ja Menschenrechtsverletzungen begangen haben, wie etwa im März 2019 beim Massaker im Dorf Ogassagou mit 173 getöteten Menschen.

In den letzten Jahren wurde viel Porzellan zerschlagen, das lässt sich nicht einfach durch bloßen Goodwill rückgängig machen. Aber die westlichen Länder sollten sich nunmehr auf sämtlichen Ebenen um einen Neuanfang bemühen (ganz gleich, wie es mit Minusma konkret weitergeht) und der malischen Gesellschaft Angebote unterbreiten, die weit über die bisherigen Formen der Kooperation hinausgehen. In diesem Sinne sei stellvertretend auf die vom Sahel-Ausschuss der Vereinigung für Afrika-Wissenschaften in Deutschland bereits im November 2020 vorgelegte (und auf Burkina Faso gemünzte) „Whatever it costs“-Initiative verwiesen (deutsch: https://vad-ev.de/wp-content/uploads/2022/07/VAD-Sahel-Papier-Nr.-2.pdf, französisch: https://vad-ev.de/wp-content/uploads/2022/07/VAD-Sahel-Document-Nr.-2-Francais-Final.pdf), in die auch erklärtermaßen das Wissen miteinfließt, dass wir uns in einer postkolonialen Situation befinden, in der die westlichen Länder mit Demut agieren sollten – im Wissen um ihre historische Verantwortung, also ohne Lehrmeister-Attitüde, die vermeintlich besser als die Malier:innen selbst verstünde, wie mit der aktuellen, hochgradig widersprüchlichen Lage zu verfahren sei.