Vom Dschungel auf den Euromayday. NoLager-Netzwerk weiterhin aktiv
ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 495 / 20.5.2005
Der Kontrast hätte kaum größer sein können: Am 2. April demonstrierte das bundesweite NoLager-Netzwerk im Rahmen des europäischen Aktionstags für Bewegungsfreiheit und Bleiberecht mitten im Wald gegen das Flüchtlingslager Bahnsdorf (Brandenburg); am 1. Mai zogen NoLager-AktivistInnen an der Spitze der Euromayday-Parade für globale Rechte quer durch Hamburg – ausgerüstet unter anderem mit einem 4 Meter hohen Gold-Bolzenschneider.
Als Aktionsorte stehen Bahnsdorf und Hamburg nicht nur für zwei der zentralen Facetten europäischer Lagerpolitik. Sie verweisen auch darauf, dass Lagerpolitik, weltweite Flucht- und Migrationsbewegungen und neoliberale Umwälzung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse im postfordistischen Kapitalismus (Stichwort: Prekarisierung) nahtlos ineinander greifen. Ziel europäischer Lagerpolitik, mithin europäischer Migrationspolitik insgesamt ist es keinesfalls, Europa gegenüber Menschen aus der Peripherie schlicht und einfach abzuschotten – so wie das durch die immer noch weit verbreitete Rede von der „Festung Europa“ nahe gelegt wird. Angesagt scheint es vielmehr, mit differenzierterer Begrifflichkeit zu operieren; ein bereits seit längerem immer wieder unterbreiteter Vorschlag lautet etwa, von „Prozessen selektiver Inklusion“ zu sprechen:
Danach zielt EU-Migrationspolitik zum einen auf Flüchtlinge ab, d.h. auf Menschen, die in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten immer stärker als vermeidbarer Kostenfaktor denunziert wurden. Sie werden entweder auf ihrem Weg nach Europa abgefangen oder – sollte dies fehlgeschlagen sein – aus Europa (schnellstmöglich) wieder abgeschoben; scheitert auch letzteres, wird versucht, die Betreffenden durch geeignete Maßnahmen zu illegalisieren, also in die Papierlosigkeit zu treiben. Demgegenüber ist eine bestimmte Anzahl (sic) migrantischer, vorzugsweise irregulärer und somit ungemein billiger, flexibler und gewerkschaftlich unorganisierter Arbeitskräfte durchaus erwünscht: Sei es in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in der Gastronomie, im Reinigungsgewerbe, in Bordellen oder den Privathaushalten der Mittelklassen. Falsch wäre es indessen, diese Prozesse einzig vom Standpunkt der Arbeitskraftnachfrage zu rekonstruieren. Denn die Aufrüstungsbemühungen der Grenzen mögen noch so ausgeklügelt seien, den EU-MigrationsbürokratInnen wird es nie gelingen, die Menschen auf ihrer Suche nach einem besseren oder sicherern Leben grundlegend in Schach zu halten. So sollen allein über die Grenze im Süden jährlich etwa 500.000 Menschen irregulär in die EU einreisen. Mit anderen Worten: MigrantInnen bzw. Flüchtlinge machen sich zwar aus Not auf den Weg und werden nicht zuletzt auf diese Weise zu Angehörigen der globalen Reservearmee, sie sind aber keine passive, beliebig steuerbare Verschiebemasse. Ihre Praktiken stellen vielmehr – Stichwort: Autonomie der Migration – „eine richtiggehende Strategie der Organisation „von unten“ dar, und zwar in einer „transnationalen“ Dimension sozialer Reproduktion weiter „subalterner“ Bereiche in den Ländern, die das kapitalistische Kommando immer noch an die Peripherie des globalen Systems verbannt.“ (Sandro Mezzadra)
Konkret folgt hieraus, dass es die Funktion der EU-Außengrenze etwas anders zu bestimmen gilt als gemeinhin üblich: Zum einen sollen durch das immer hochgejazztere Grenzregime möglichst viele Menschen an der Einreise in die EU gehindert werden; schließlich wäre aus ordnungspolitischer Herrschaftsperspektive ein ungehindertes Anwachsen der migrantischen Reservearmee innerhalb der EU äußerst dysfunktional. Einzig in diesem Sinne ist es angezeigt, von einer Politik der „Festung Europa“ zu sprechen. Zum anderen führen die realen Flucht- und Migrationsbewegungen dem EU-Grenzregime fortdauernd seine eigenen Beschränktheiten plastisch vor Augen. Insofern bleibt diesem nichts anderes, als durch restriktive Visa- und Aufenthaltstitel-Politik sowie weitere Repressionsinstrumente – etwa Lager – „wenigstens“ einen Großteil derjenigen zu illegalisieren, die trotzdem einreisen bzw. nach Ablauf ihres befristeten Visums (als StudentIn, TouristIn, ErntehelferIn etc.) nicht wieder zurückkehren. Hierdurch können nicht nur zusätzliche Kosten (für Unterbringung, Sozialhilfe etc.) vermieden werden, es kann auch eine gewisse, vor allem im Rahmen der prekarisierten Lohnarbeit negativ zum Tragen kommende Defensivität, ja Gefügigkeit seitens der Papierlosen erzwungen werden; immerhin schwebt über sämtlichen von ihnen ständig das Damoklesschwert der jederzeit möglichen Abschiebung. Das europäische Lagersystem ist konstitutiver Bestandteil dieser Logik, konkret erfüllt es drei Aufgaben.
Erstens: An den Außengrenzen der EU, ob in Polen, auf den Kanarischen Inseln oder in Süditalien, werden neu ankommende Flüchtlinge und MigrantInnen nach Möglichkeit frühzeitig abgefangen und in Haftanstalten oder Internierungslagern eingesperrt. Von dort aus können sie entweder einen Asylantrag stellen – eine Prozedur, die nicht selten 1-2 Jahre dauert – oder sie werden direkt in die jeweils unmittelbar angrenzenden so genannten sicheren Drittstaaten zurückgeschoben. Am dramatischsten ist jedoch die zunehmende Errichtung von Lagern außerhalb der EU, unter anderem in der Ukraine, in Tunesien und Libyen. Diese Lager sind so etwas wie Prototypen der von Innenminister Schily auf EU-Ebene propagierten EU-Lager in Nordafrika. Teils landen in diesen Lagern Flüchtlinge, die aus der EU abgeschoben werden – das bekannteste Beispiel ist die Luftbrücke zwischen der zu Italien gehörigen Insel Lampedusa und Libyen, teils handelt es sich um direkt von den Grenzpolizeien der jeweiligen Länder abgefangene Flüchtlinge und MigrantInnen. Klar scheint nur soviel zu sein: Aus diesen z.T. streng von der Öffentlichkeit abgeschirmten Lagern (allein Tunesien betreibt 11 geheime, von Italien finanzierte Abschiebeknäste) finden regelmäßig haarsträubende Abschiebungen statt, unter anderem sollen Menschen mitten im Wüsten-Niemandsland ausgesetzt worden sein. Es steht zu befürchten, dass auf diese Weise bereits mehrere hundert, möglicherweise mehrere tausend Menschen ums Leben gekommen sind.
Die Lager an den EU-Außengrenzen dienen zweitens der Abschreckung und somit der Illegalisierung: Menschen, die wissen, dass ihnen im Falle eines Asylverfahrens erstmal 1-2 Jahre so genannte Verwaltungshaft blühen könnte – unter katastrophalen Bedingungen und ohne anwaltliche Unterstützung, überlegen sich sehr genau, ob sie dieses Risiko tatsächlich eingehen möchten. Ähnliche und von den Behörden ebenfalls explizit beabsichtigte Effekte gibt es auch innerhalb der EU: In Deutschland etwa ziehen zahlreiche Flüchtlinge regelmäßig in die jeweils nächst liegenden Großstädte, einfach weil sie ansonsten Gefahr laufen, in ihren mehr oder minder weit abgelegenen Lagern – Stichwort: Dschungelheime – physisch und psychisch vor die Hunde zu gehen. Sie behalten zwar ihren Rechtsstatus als Flüchtlinge bei (viele holen sich auch 1 x pro Monat ihr Taschengeld ab), sie müssen aber für ihre Unterkunft in der Stadt und sonstige Lebenshaltungskosten selber aufkommen. Weil Flüchtlinge einem nahezu absoluten Arbeitsverbot unterliegen, ist das nur durch irreguläre und somit hochgradig prekarisierte Arbeit möglich. Die Behörden tolerieren das gemeinhin, schließlich sparen sie auf diese Weise ebenfalls viel Geld. Lager erfüllen drittens den Zweck, die Abschiebemaschinerie möglichst reibungslos am Laufen zu halten. Das gilt nicht nur für Abschiebeknäste und Internierungslager, sondern auch für Flüchtlingslager – jene Nicht-Orte, in denen die Klaviatur des Auschlusses im Einschluss so virtuos beherrscht wird: Denn je isolierter und somit stigmatisierter Flüchtlinge sind („Die Leute aus dem Lager“), desto effektiver sind sie kontrollierbar, desto einfacher kann jederzeit auf sie zugegriffen werden. Außerdem sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass durch juristische, politische oder soziale Unterstützung von außen Abschiebungen Steine in den Weg gelegt werden.
Legt mensch das eben Gesagte zugrunde, dürfte deutlich werden, inwieweit sich die Aktionen in Bahnsdorf und Hamburg gegen zwei der zentralen Facetten europäischer Lagerpolitik gerichtet haben: Bahnsdorf ist ein Ort der Repression, hier werden Flüchtlinge systematisch isoliert, schikaniert und gedemütigt – der administrative Horizont erstreckt sich zwischen den Polen Abschiebung und Illegalisierung. Vor diesem Hintergrund war es naheliegend, dass das NoLager-Netzwerk am 2. April mit seinem bereits auf der letztjährigen Anti-Lager-action-Tour proklamierten Dreifach-Motto „Isolation unterwandern, Öffentlichkeit herstellen, Flüchtlingsselbstorganisierung unterstützen“ (ak 492) in Bahnsdorf aufgelaufen ist. Dank aktionistischer Entschlossenheit sowie einer ungewöhnlich lax eingestellten Polizei gelang es obendrein, den Wachschutz zu übertölpeln, das Tor aufzudrücken und mit ca. 200 Menschen direkt aufs Lagergelände zu kommen. Das war nicht zuletzt deshalb wichtig, weil nur so überzeugend der Angst entgegengetreten werden konnte, die seitens der privaten Betreibergesellschaft European Homecare systematisch unter den BewohnerInnen im Vorfeld des 2. April geschürt worden war. Einige BewohnerInnen fassten sich sogar ein Herz und berichteten am offenen Mikrofon über die Bedingungen im Lager, andere erzählten im kleineren Kreis. Eine vietnamesische Ex-Vertragsarbeiterin berichtete etwa, dass sie mit ihren Kindern seit 13 (sic) Jahren in Bahnsdorf lebt – Zukunft ungewiss.
Unter Verweis auf die für den Euromayday zentrale Begrifflichkeit der Prekarisierung wurde zwar auch in Hamburg darauf aufmerksam gemacht, weshalb das Leben im Flüchtlingslager in nahezu jeder Hinsicht Ausdruck zugespitzter Prekarität ist, doch der thematische Focus lag woanders: In Hamburg ging es NoLager um die Welt hinter der Illegalisierung, d.h. um prekarisierte Existenz- und Arbeitsbedingungen, auf die Flüchtlinge und MigrantInnen stoßen, sobald sie sich den Behörden und ihren (Lager-)Apperaten auf die eine oder andere Weise entziehen. Das aber hat neue Perspektiven und Querverbindungen eröffnet, schließlich sind Flüchtlinge und MigrantInnen gleichermaßen wie EU-PassinhaberInnen von prekarisierten Arbeits- und Existenzbedingungen betroffen – wenn auch auf unterschiedlichen Leveln und vor unterschiedlichen Hintergründen. Das Aufflackern neuer Verbindungslinien dürfte in Hamburg nicht nur ein auf NoLager beschränktes Phänomen gewesen sein; vielmehr scheint die gesamte Euromayday-Parade von einer temporären wechselseitigen Identifikation mit den politischen Anliegen der jeweils Anderen gelebt zu haben. Aus dem Blickwinkel der FlüchtlingsaktivistInnen im NoLager-Netzwerk ist das insbesondere durch den Umstand zum Ausdruck gekommen, an der Spitze einer Parade mit mehreren tausenden Leuten gelaufen zu sein; ist doch so ihre durch Lagerpolitik ansonsten aufgezwungene Unsichtbarkeit in ihr glattes Gegenteil verkehrt worden! Was indessen weder in Bahnsdorf noch in Hamburg stattgefunden hat, ist eine offensive Auseinandersetzung mit den Auffanglagern an den Außengrenzen der EU, d.h. mit der dritten Facette des europäischen Lagersystems. Im Prinzip ist das nicht weiter verwunderlich, schließlich liegen diese, teils sogar geheimen Lager jenseits jeder unmittelbaren politischen Zugänglichkeit. Genau das macht diese Lager so gefährlich; denn sollten die von Schily & Co. favorisierten Pläne nur ansatzweise realisiert werden, würde das die EU-Migrationsbürokratie in ihrem Ziel, Europa weitgehend frei von rechtlich geduldeten Flüchtlingen zu machen, einen entscheidenden Schritt nach vorne bringen. Vor diesem Hintergrund ist es ein politisch wichtiges Signal, dass sich mittlerweile in unterschiedlichen politischen Ecken Protest gegen die Lagerpolitik an den Rändern der EU regt. Stellvertretend sei ein äußerst aufschlussreicher, derzeit vom Komitee für Grundrechte und Demokratie verbreiteter Appell erwähnt, in dem das europäischen Lagersystem in ganzer Breite kritisiert wird.
Olaf Bernau – alias Gregor Samsa (NoLager Bremen)