Runter vom Beobachtungsturm. Die Linke ist auf etwaige Krisenproteste unverändert schlecht vorbereitet
ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 542 / 18.9.2009
Geht es um praktische Kriseninterventionen, ist ein gewisser Hang zum Abstinenzlerischen unübersehbar: Im Zentrum der Debatte stehen gemeinhin programmatische und bündnistaktische Erwägungen. Demgegenüber spielt die Frage, unter welchen Bedingungen es überhaupt zu Widerständigkeiten bzw. sozialen Kämpfen kommt, eine eher marginale Rolle. Es ist also kaum verwunderlich, dass die allenthalben artikulierte Forderung nach lokalen Krisenbündnissen immer wieder im bloßen Appell stecken bleibt: Nicht zuletzt die konkrete Bestimmung, wie sich soziale Bewegungen in betriebliche und andere Auseinandersetzungen einbringen könnten, wird häufig nur am Rande gestreift.
Exemplarisch lässt sich dies anhand dreier Debattenbeiträge aus der jüngeren Zeit verdeutlichen: Unter dem Titel „Agenda 2009: Menschen statt Profite“ haben im Anschluss an die Krisendemonstrationen am 28. März diverse (in unterschiedlichen Organisationen und Bündnissen aktive) Einzelpersonen sowie die Gruppe soziale Kämpfe den Versuch einer strategischen Standortbestimmung unternommen. (vgl. ak 539)
Große Teile des Papieres beschäftigen sich mit der Analyse des herrschenden Krisenmanagements sowie der Formulierung programmatischer Gegenperspektiven. Wie indessen die ins Auge gefasste „Widerstandsagenda“ realisiert werden soll – inklusive politischem Streik, ja Generalstreik – bleibt ungeklärt. Gewiss, am Ende des Beitrages werden stichwortartig Termin- und Aktionsvorschläge unterbreitet, dennoch fehlt eine – wie auch immer sie ausfalle mag – vorläufige Analyse aktueller Kräfteverhältnisse, also auch eine Auseinandersetzung mit den Konsequenzen jener zahlreichen Niederlagen, die nicht nur das globale Proletariat, sondern auch soziale Bewegungen in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten erlitten haben.
Hintergrund dieses Mankos dürfte die mittlerweile hinreichend erschütterte Annahme sein, wonach die Finanz- bzw. Wirtschaftskrise zugleich eine grundlegende Legitimitätskrise des Kapitalismus hervorgebracht und somit quasi automatisch (sic!) ein Fensterchen für emanzipatorische Politiken geöffnet habe.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Diskussionsbeitrag „Wie weiter nach dem 28. März?“, den Angela Klein für die Aktionskonferenz in Kassel am 27./28. Juni verfasst hat: Sie spricht zwar von „Ohnmacht und Angst“, die sich in der Bevölkerung ausbreiten würden, frönt dann allerdings einem fast schon frivol anmutenden Krisenoptimismus: „Gleichzeitig – und das ist kein Widerspruch – weist die Stimmungslage eine Tendenz zur Radikalisierung auf; es geht die Rede vom Generalstreik; es gibt erste, wenn auch kurzzeitige Betriebsbesetzungen; es gibt an verschiedenen Orten Kämpfe, die den Willen ausdrücken, trotz Krise den eigenen Lebensstandard zu behaupten.“
Kurzum: Auch bei Angela Klein sind keine Antworten auf die Frage zu finden, wie soziale Kämpfe – ob mit oder ohne linke Beteiligung – zu ihrer vormaligen Stärke zurückfinden könnten. Denn auch sie scheint Krise und Widerständigkeit umstandslos kurzzuschließen – ohne systematische Analyse jener Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit Proteste überhaupt zustande kommen und eine ernsthafte, in der Breite verankerte Eigendynamik entfalten können.
Schließlich Thomas Seibert: In seinem Beitrag „Die Unbestimmtheit nutzen, dem Ereignis auflauern“ (ak 540) lässt er die von ihm vage am Horizont erspähten sozialen Unruhen zum bloßen „Ereignis“ zusammenschnurren. Entsprechend kreisen seine Überlegungen in erster Linie um die organisierte Linke, also jenes Spektrum zwischen Linkspartei, linken GewerkschafterInnen, attac und radikaler Linke. Vieles davon ist grundlegend, insbesondere die von Thomas Seibert schon seit Längerem propagierte Devise, dass Kooperation in Bündnissen die prinzipielle Bereitschaft voraussetze, den jeweiligen BündnispartnerInnen ihre Eigenständigkeit zu belassen. Allein: Eine „Strategie- und Organisationsdebatte“ – wie sie Thomas Seibert vorschlägt – lässt Entscheidendes außen vor, wenn sie den Graben zwischen organisierter Linker und „durchschnittlicher“ Bevölkerung zu groß werden lässt und wenn sie obendrein nicht darzulegen vermag, wie die organisierte Linke ohne (krypto-)leninistische Allüren in betrieblichen und anderen Konflikten aktiv werden könnte.
Protest und offensiver Widerstand sind keine Selbstläufer, sie können nicht kurzerhand aus objektiven Makro-Daten wie massenhaften Betriebsschließungen oder Reallohnverlusten abgeleitet werden. Wer so argumentiert, projiziert eigene Gerechtigkeitsvorstellungen in den gesellschaftlichen Raum, und das mit der Konsequenz, dass unerklärlich wird, weshalb konflikthafte, ja militante Kampfzyklen immer wieder von defensiven, zeitlich oft lange andauernden Phasen unterbrochen werden, in denen soziale Kämpfe merklich zurückgehen bzw. ihren Charakter ändern und allenfalls unter der Oberfläche – meist als individuelle Überlebensstrategien – weiterbrodeln.
Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, zunächst einmal der Frage nachzugehen, unter welchen Voraussetzungen es in Schwellen- und Industrieländern seitens der subalternen – politisch nicht weitergehend organisierten – Klassen überhaupt zu offensiven Widerständigkeiten kommt. Das ist einerseits schwierig, da jeder Streik oder Konflikt eine hochgradig individuelle Angelegenheit darstellt – insofern ist die etwaige Reichweite bzw. Plausibilität der hier zusammengetragenen „Faktoren“ von Fall zu Fall neu zu bewerten. Andererseits blickt die gesellschaftliche Linke im Feld sozialer (Klassen-)Kämpfe auf eine derart lange und durchaus erfolgreiche Geschichte zurück, dass es geradezu sträflich wäre, die darin schlummernden Einsichten nicht für aktuelle Kämpfe fruchtbar zu machen. (1)
a) Existenzieller Druck und kollabierende Routinen: In ihrem Klassiker „Aufstand der Armen“ (original: 1977) entwerfen die US-TheoretikerInnen Frances Piven und Richard Cloward eine Art Drehbuch sozialer Kämpfe – expliziert anhand der US-Arbeitslosen- und ArbeiterInnenbewegungen in den 1930er Jahren sowie der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der ebenfalls überwiegend schwarzen Bewegung der WohlfahrtsempfängerInnen seit den 1950er Jahren. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist ein zweifacher: Einerseits stünde am Anfang jeder größeren Protestwelle existenzieller Druck, beispielsweise durch plötzliche Not oder enttäuschte Erwartungen. Andererseits bedürfe es des Zusammenbruchs der regulativen Kräfte einer Gesellschaft – quasi als Voraussetzung dafür, dass die Betroffenen überhaupt auf die Barrikaden gingen. Konkreter: Sozioökonomische Einbrüche fielen bisweilen derart einschneidend aus, dass die herkömmlichen Strukturen und Abläufe des Alltagslebens und somit auch die loyale Anbindung der Menschen an die herrschende Sozialordnung kollabieren würden. Tiefenschärfe gewinnt dieses Szenario freilich erst, wenn der nebulös anmutende Terminus des „existenziellen Drucks“ konkretisiert wird. Denn die diesbezügliche Bandbreite ist – wie bereits angedeutet – beträchtlich, auch wenn umgekehrt nie aus dem Blick geraten sollte, dass sich die unterschiedlichen Dimensionen oftmals ergänzen bzw. überlappen:
Erstens: Historisch am relevantesten – jedenfalls bis zum Zweiten Weltkrieg – dürfte die Erfahrung plötzlicher sozialer Deklassierung gewesen sein. Was das konkret heißt, ist heutzutage immer dann zu erleben, wenn mehr oder weniger unerwartet Massenentlassungen bzw. Betriebsschließungen bekannt gegeben werden. So haben entsprechende Entscheidungen – um nur drei Beispiele zu nennen – 2004 bei Opel in Bochum, 2005 im AEG-Werk in Nürnberg und 2007 bei Bike-Systems in Nordhausen jeweils spontan wilde Streiks bzw. de-facto-Betriebsbesetzungen nach sich gezogen. Noch dramatischer ist die Situation, wenn ganze Branchen abgewickelt werden sollen: Erinnert sei nur an den einjährigen – streckenweise bürgerkriegsartigen – Bergarbeiterstreik 1984/85 in Großbritannien, der jedoch den tatsächlich erfolgten Abbau von 580.000 Arbeitsplätzen im Bergbau nicht aufzuhalten vermochte. Am nachhaltigsten hat sich – das ist in der aktuellen Krisenberichterstattung einmal mehr deutlich geworden – die Weltwirtschaftskrise in den frühen 1930er Jahren ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: 1933 war zum Beispiel in den USA ein Drittel der Erwerbsbevölkerung arbeitslos, zugleich sank das gesamte Lohneinkommen zwischen 1929 und 1933 von 51 auf 26 Milliarden US-Dollar. Umgekehrt ist dies, so Frances Piven und Richard Cloward, zwischen 1933 und 1937 mit einer für US-Verhältnisse ebenso unbekannten wie erfolgreichen Massenmilitanz größerer Teile der Arbeiterbewegung einhergegangen.
Zweitens: Eine völlig anders gelagerte Dynamik ergibt sich aus dem Phänomen enttäuschter Erwartungen – auch bekannt als „relative Deprivation“: Häufig zitiertes Beispiel sind die jungen, aus dem agrarisch geprägten Süditalien in die norditalienischen Industriezentren migrierten MassenarbeiterInnen, die seit den frühen 1960er Jahren vor allem deshalb auf den Putz gehauen haben, weil ihre ursprünglichen Aufstiegserwartungen in nahezu keiner Hinsicht aufgegangen sind. Ganz ähnlich in Deutschland: Allein im August 1973 legten 80.000 MetallarbeiterInnen in wilden Streiks ihre Arbeit nieder. Ihnen waren die seitens der IG Metall ausgehandelten Lohnerhöhungen von 8,5 Prozent schlichtweg zu niedrig – jedenfalls im Lichte der damaligen Teuerungsrate. Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte deutlich werden, dass Routinen und Loyalitäten nicht nur in der Krise, sondern auch im Zuge offensiver Streikzyklen kollabieren bzw. ihre Ausrichtung ändern können.
Drittens, zurück nach Italien: Die Kritik der MassenarbeiterInnen richtete sich nicht zuletzt gegen das despotische Fabrikregime – ein Umstand, der sich im Laufe der 1960er Jahre bei vielen von ihnen zu einer grundsätzlichen Kritik kapitalistischer Lohnarbeit zuspitzen sollte. Wichtig ist jener Umstand insofern, als hohe Bandgeschwindigkeiten, schlechter Gesundheitsschutz, verweigerte Mitbestimmung etc. schon lange wichtige Auslöser defensiver wie offensiver Arbeitskämpfe darstellen. So streikten die ArbeiterInnen in den USA Anfang der 1930er Jahre zunächst einmal für das Recht, überhaupt betriebliche Vertretungsstrukturen bilden und offiziell mit den Unternehmen (Tarif-)Verhandlungen führen zu können; in den 1960er Jahren setzten sich FordarbeiterInnen in Köln für eine stündliche Band- bzw. Akkordpause ein; und der Besetzung der berühmten Kachelfabrik Zanon 2001 in Argentinien ist – gleichsam als erste gemeinsame Kraftprobe – ein neuntägiger Streik für besseren Arbeits- und Gesundheitsschutz im März 2000 vorausgegangen.
Viertens: Der Kampf um die eigene Würde ist ein Beweggrund, der in vielen Auseinandersetzungen eine mehr oder weniger tragende Rolle spielt – darauf hat auch der Betriebsratschef von New-Fabris unmissverständlich aufmerksam gemacht, jener Autozuliefererfirma in Frankreich, in der streikende Arbeiter mehrere Wochen lang explosive Gasflaschen deponiert hatten: „Wir stehen vor dem Elend (…) Wir sollten uns nicht wegwerfen lassen wie Dreck. Wir müssen gegen all diese Entlassungen in Frankreich und in anderen europäischen Ländern kämpfen.“
b) Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte: Das Moment der Würde verweist auf einen elementaren Sachverhalt: Der Druck mag noch so groß sein, zu Widerständigkeit und Protest kommt es erst, wenn die diesbezüglichen Erfahrungen als ungerecht interpretiert bzw. empfunden werden. Das aber ist keineswegs selbstverständlich, sind doch die gesellschaftlichen AkteurInnen – bei aller Bereitschaft zur Rebellion – den herrschenden Verhältnissen zunächst einmal in habitueller, d.h. kognitiver, normativer und affektiver Hinsicht mehr oder weniger weitgehend verpflichtet.
Es ist insofern kaum verwunderlich, dass dieser ebenso simple wie grundlegende Sachverhalt linke TheoretikerInnen schon immer beschäftigt hat – wichtige Schlagworte lauten etwa „Ideologie als notwendig falsches Bewusstsein“ (Marx/Engels), „verdinglichtes Bewusstsein“ (Lukácz), „autoritärer Charakter“ (Adorno), „spontaner Konsens, Alltagsverstand und kulturelle Hegemonie“ (Gramsci), „sense of one’s own place“ (Bourdieu) etc. Kurzum: Wer auf Krisenproteste setzt, sollte nicht nur Bankenzusammenbrüche und Exportdaten in Augenschein nehmen, sondern auch die „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ (Axel Honneth).
Sämtliche Erfahrungen zeigen, dass (sowohl persönlich als auch kollektiv zu realisierende) Prozesse praktischer Dissidenz ein schwerfälliges und langwieriges – auf jeden Fall kein automatisches – Unterfangen sind: In den USA hat es, wie gesagt, drei bis fünf Jahre gebraucht, bis sich die ArbeiterInnen gegen die Folgen der Weltwirtschaftskrise massenhaft zur Wehr gesetzt haben. Genauso wenig sind in Italien und Deutschland der „heiße Herbst“ bzw. die „Septemberstreiks“ im Jahr 1969 vom Himmel gefallen. Vorausgegangen waren vielmehr – als eine Art Inkubationszeit – die fälschlicherweise oft als streikarm bezeichneten 1960er Jahre: In einer Vielzahl wilder, oftmals lokal verankerter sowie mehr oder weniger diskret durchgezogener Streiks und Auseinandersetzungen konnten immer wieder Erfahrungen in kollektiver Selbstorganisierung, konfrontativer Selbstbehauptung, externer Solidarität etc. gesammelt werden – inklusive der schrittweisen Aneignung subversiver bzw. kritischer Denk- und Wahrnehmungsmuster, auf deren Basis dissidente Wirklichkeitsinterpretationen überhaupt erst möglich wurden (nebst Überwindung von Angst, Scham und Konformismus).
c) Organisierung und Unberechenbarkeit: Ohne organisierte Kerne, die die Initiative ergreifen, ist sozialer Aufruhr undenkbar. In betrieblichen Auseinandersetzungen sind dies gemeinhin – insbesondere bei wilden Streiks, Betriebsbesetzungen oder konspirativ eingefädelten Warnstreiks – basisorientierte Betriebsgruppen, linke VertreterInnen des gewerkschaftlichen Vertrauenskörpers oder parteipolitisch gebundene Kader. Es gibt aber auch Ausnahmen. Bei Gate Gourmet haben sich bereits 2003 – also mehr als zwei Jahre vor dem Streik – mehrere, nur zum Teil politisch erfahrene ArbeiterInnen als konspirativ agierende Widerstandszelle zusammengetan: einerseits um den unternehmenshörigen Betriebsratschef abzusägen, was tatsächlich gelungen ist, andererseits um die einst äußerst stark mit dem Unternehmen identifizierte Belegschaft auf die Notwendigkeit eines Streiks einzustimmen (seitdem es im Zuge eines Besitzerwechsels zu krasser Verdichtung der Arbeitsabläufe, völliger Flexibilisierung der Arbeitszeiten und absichtsvoller Schikanierung, ja Entwürdigung der ArbeiterInnen gekommen war). Es ist daher auch folgerichtig gewesen, dass jenes U-Boot den ganzen sechsmonatigen Streik über als informelle Streikleitung und somit Gegengewicht zur Gewerkschaft fungiert hat.
Und doch: Selbst wenn sämtliche Zeichen auf Streik bzw. Aufruhr stehen – im Sinne des bislang Dargelegten -, es gibt keinerlei Garantie, dass dies am Ende auch tatsächlich geschieht. Oder mit Rosa Luxemburg: Es ist „äußerst schwer, vorauszusehen und zu berechnen, welcher Anlass und welche Momente zu Explosionen führen können und welche nicht (…) Die Revolution ist … nicht ein Manöver des Proletariats im freien Felde, sondern sie ist ein Kampf mitten im unaufhörlichen Krachen, Zerbröckeln, Verschieben aller sozialen Fundamente.“
d) Erfolgsbedingungen sozialer Kämpfe: Ob soziale Kämpfe erfolgreich verlaufen, hängt – je nach Situation – von ganz verschiedenen Faktoren ab. Zwei von ihnen seien erwähnt – einmal mehr unter selektivem Rückgriff auf Frances Piven und Richard Cloward.
Erstens: Historisch waren es insbesondere militante bzw. offensive Massenaktionen, die den ökonomischen und politischen Eliten substanzielle Zugeständnisse abgerungen haben – jedenfalls insoweit es gelungen ist, dem eigenen Anliegen in der Öffentlichkeit Legitimität zu verleihen und somit die politischen EntscheidungsträgerInnen früher oder später unter massiven Interventionsdruck zu setzen.
Auf diesen Doppel-Mechanismus weist auch Rainer Thomann in einer jüngst erschienenen Studie zu „Betriebsbesetzungen als wirksame Waffe im gewerkschaftlichen Kampf“ hin: Hinsichtlich eines im Jahr 2008 erfolgreich verlaufenen Arbeitskampfes in einem großen Eisenbahn-Instandsetzungswerk in Bellinzona/Schweiz heißt es, dass es nur durch die entschlossene Betriebsbesetzung gelungen sei, einen Ort öffentlich wirksamer Gegenmacht zu etablieren – zuungunsten der ansonsten üblichen Aufnahme von Sozialplanverhandlungen, an deren Ende gleichsam per definitionem die Schließung des Betriebes stünde.
Bemerkenswert ist diese Erfahrung insofern, als sie für soziale Bewegungen hierzulande ein riesiges, bis heute nahezu brachliegendes Agitationsfeld eröffnet – einschließlich glorreicher Ausnahmen wie z.B. die breite Unterstützung des (verlorenen) Betriebskampfes bei AEG in Nürnberg 2005/06.
Zweitens: Nicht nur politisch, auch materiell und strategisch ist der Erfolg sozialer Kämpfe maßgeblich davon abhängig, inwieweit externe Unterstützung mobilisiert werden kann. Drei Beispiele: Der britische Bergarbeiterstreik ist zwar grandios gescheitert, möglich ist der einjährige Arbeitskampf aber nur deshalb gewesen (vor dem Hintergrund nicht existierender Streikkassen in Großbritannien), dass insgesamt 65 Millionen Pfund in Gestalt von Sach-, Nahrungs- und Geldspenden akquiriert werden konnten. Als die besetzte Kachelfabrik Zanon in Argentinien 2003 erstmalig geräumt werden sollte, wurde nicht nur zum provinzweiten Generalstreik aufgerufen, vielmehr hatten sich auch 5.000 Menschen als Schutzschild vor der Fabrik eingefunden. Auch die Abwicklung von Bike-Systems in Nordhausen konnte nicht verhindert werden. Dennoch sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die einwöchige Produktion von 1.800 Strike-Bikes (die sowohl für die Beschäftigten als auch für die undogmatische Linke eine äußerst beflügelnde Erfahrung war) einzig durch reichhaltige Unterstützung von „außen“ möglich gemacht wurde.
Noch im Frühjahr war allenthalben Krisenoptimismus en vogue – Slave Cubela sprach beispielsweise von der Krise als Treibhaus, ja von sozialen Kämpfen als zu erwartenden „Treibhausblüten“. (express 4/2009) Dahinter stand zum einen die Erwartung, dass durch gravierende Turbulenzen das „erstarrte soziale Wissen“ (Slave Cubela) erodieren würde, etwa weil die Menschen durch abrupt in die Höhe schnellende Arbeitslosenzahlen realisieren könnten, dass der Verlust des Arbeitsplatzes mitnichten selbstverschuldet sei. Zum anderen zirkulierte die Hoffnung, dass es durch die Globalität der Krise zu einer teppichartigen Synchronität der Kämpfe und somit einem Überschwappen des Aufruhrs in bis dato ruhige Gefilde käme.
Nicht nur der bisherige Krisenverlauf, auch etliche der hier skizzierten Erfahrungen mit sozialen Kämpfen in der Vergangenheit sprechen dafür, mit Prognosen hinsichtlich aufkeimender „Krisenproteste“ zukünftig vorsichtiger zu hantieren – jedenfalls, was hiesige Verhältnisse anbelangt.
a) Gewiss, die Überakkumulationskrise als strukturelle Ursache der aktuellen Weltwirtschaftskrise besteht unverändert fort. Dennoch führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass es den ökonomischen und politischen Eliten in ihrem bisherigen Krisenmanagement besser als erwartet gelungen ist, allzu intensive Ausschläge nach unten zu vermeiden. Ob es also – im Sinne von Frances Piven und Richard Cloward – tatsächlich zu kollabierenden Loyalitäten und Routinen (samt Kämpfen) kommen wird, scheint derzeit keinesfalls ausgemacht. Und das auch deshalb, weil die nach der Bundestagswahl drohende Abwälzung der krisenbedingten Milliardenschulden auf die Allgemeinheit ihre fatalen Effekte nicht in einem großen Showdown, sondern vielmehr scheibchenweise – das heißt auf Jahre gestreckt – entfalten dürfte.
b) Insbesondere in den Industrieländern hat die Arbeiterbewegung im Zuge der neoliberalen Globalisierung dramatische Niederlagen erlitten. (vgl. ak 535) Das hat nicht nur objektiv ihre Kampfkraft geschwächt – exemplarisch erwähnt sei die umfassende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse (samt Fragmentierung durch Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Minijobs etc.). Auch in subjektiver Hinsicht haben die Niederlagen deutliche Spuren hinterlassen, nicht zuletzt durch den Verlust konkreter Organisations-, Kampf- und Machterfahrungen. Mehr noch: Zahlreiche Menschen sind regelrecht demoralisiert worden, etwa davon, dass es trotz Massenprotesten nicht gelungen ist, die Einführung von Hartz IV zu verhindern.
Dieser Umstand spiegelt sich auch in einer von Gero Neugebauer für die Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel „Politische Milieus in Deutschland“ erstellten Studie wider: Danach sei im „abgehängten Prekariat“ – also in jenen von der Krise (potenziell) am stärksten betroffenen Milieus – „das Politikinteresse sowie das politische Kommunikations- und Teilhabeverhalten unterdurchschnittlich“. Vieles spricht demnach dafür, dass es in nächster Zeit zu einem permanenten Auf- und Abflauen sozialer Kämpfe kommen wird und erst im Schlepptau davon zu einer allmählichen Herausbildung substanzieller, breit verankerter Konfliktfähigkeit – vergleichbar mit den Erfahrungen in den frühen 1930er Jahren in den USA sowie mit denen der 1960er Jahren in Westeuropa.
c) Ebenfalls problematisch ist, dass die Gewerkschaften bis heute nicht die notwendigen Konsequenzen aus den in der neoliberalen Globalisierung begründeten Erpressungspotenzialen gezogen haben – Stichwort: Standortwettbewerb. Auf jeden Fall steht der Aufbau transnationaler Gewerkschaftsstrukturen weiterhin nicht oben auf der Agenda – ein Manko, auf das unter anderem der ver.di-Linke Werner Sauerborn unverdrossen aufmerksam macht. (vgl. etwa: express 1/2009)
d) Schließlich sollte nicht unterschlagen werden, dass auch die bewegungsorientierte Linke unverändert schwach aufgestellt ist – der von manchem erhoffte Stabilisierungseffekt durch die Proteste in Heiligendamm ist mit anderen Worten nicht eingetreten. Insofern sind von dieser Seite in naher Zukunft wohl keine außergewöhnlichen Aktivitäten hinsichtlich „Krisenprotesten“ bzw. Klassenkämpfen zu erwarten.
Lokale Konfliktualitäten und mediale Großevents
Bei aller Skepsis wäre es sachlich falsch und politisch kontraproduktiv, nunmehr das Handtuch zu werfen – denn es gibt durchaus Risse im Putz: Der wilde Streik bei Opel im Oktober 2004, der hartnäckige (wenn auch nicht sonderlich erfolgreiche) Streik im Einzelhandel (2007/08), der Lokführer-Streik (2007/08), die Emmely-Kampagne (seit 2007) – all diese und weitere (zum Teil bereits erwähnte) Beispiele zeigen, dass auch hierzulande Widerständigkeit möglich ist. In diesem Sinne sei abschließend die Frage aufgeworfen, welche Rolle die bewegungsorientierte Linke im kommenden Krisengeschehen spielen könnte bzw. sollte:
Zweierlei dürfte unstrittig sein: Die Krise kann jedeN treffen – Erwerbslose, abhängig Beschäftigte, Studierende, NutzerInnen öffentlicher Dienstleistungen etc. Das aber heißt, dass Krisenkämpfe an ganz verschiedenen Orten ausbrechen können. Zudem gilt, dass es keinen privilegierten Durchsetzungsmechanismus gibt, denn jede Gruppe hat ihre ganz eigenen Vorgehensweisen, mittels derer konkreter Druck entfaltet werden kann – sei es Streik, Besetzung, Demonstration oder eine Kombination aus alledem.
Mit anderen Worten: Es wäre zu kurz gegriffen, lokale Krisenbündnisse als bloße Vernetzungsorte zu bestimmen. Im Mittelpunkt sollte vielmehr das (in sozialen Zentren, workers centers, oder ähnlichen Orten verankerte) Bemühen stehen, sich wechselseitig in der Entfaltung unmittelbaren Drucks zu unterstützen – und das auf mindestens fünf Weisen: taktisch-strategisch (Blockaden gegen StreikbrecherInnen etc.), diskursiv-medial (Solidaritätsaktionen etc.), politisch-programmatisch (Propagierung globaler Solidarität – zuungunsten chauvinistischer bzw. rassistischer Krisenlösungsstrategien etc.), praktisch-organisatorisch (Vernetzung mit anderen Streikkollektiven etc.) sowie solidarisch-konkret (FahrerInnendienste etc.).
Die verbindliche Beteiligung an konkreten Kämpfen (ob als BetroffeneR oder UnterstützerIn) stellt erfahrungsgemäß eine extrem nervenaufreibende Angelegenheit dar. Vor diesem Hintergrund nehmen sich die zahlreichen Appelle der vergangenen Monate reichlich skurril aus, wonach lokale Krisenbündnisse stets darauf achten sollten, Wirtschafts-, Energie-, Klima- und Ernährungskrise gleichermaßen zu behandeln. Wer so argumentiert, unterschätzt nicht nur die praktisch-alltäglichen Erfordernisse in konkreten Auseinandersetzungen – nebst unvermeidbarer „Betriebs“blindheiten.
Verkannt wird auch, dass praktische Kämpfe völlig anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen als diskursive Interventionen. Eine Problematik, welche ihrerseits auf den Umstand verweist, dass sich große Teile der bewegungsorientierten Linken bis heute nicht entschieden haben, ob sie ProtagonistInnen in sozialen (Klassen-)Kämpfen werden möchten (ganz gleich, in welcher Position) oder ob sie ihre Rolle vornehmlich in der Organisierung punktueller Großevents bzw. zeitlich befristeter Kampagnen sehen.
Gerade weil sich soziale Kämpfe als eine Art schwarzes Loch entpuppen können (denn Taktgeber ist nicht der eigene Terminkalender, sondern die Konfrontationsdynamik mit einem realen, hochgradig interessengeleiteten Gegner), ist es naheliegend, auf lokaler Ebene die meist nicht sonderlich üppigen Kräfte an lediglich zwei oder drei Auseinandersetzungspunkten zu bündeln – unbeschadet dessen, wie partikular bzw. nicht-repräsentativ jeder konkrete Kampf auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn erfahrungsgemäß kann auf diese Weise durchaus beträchtliche Resonanz erzielt werden – mit der Konsequenz, dass die eigene Glaubwürdigkeit und Mobilisierungskraft rasant wächst, nicht zuletzt im Rahmen symbolisch-diskursiv ausgerichteter Großereignisse bzw. Aktionstage à la 28. März.
Olaf Bernau, NoLager Bremen
Anmerkung:
1) Aus Gründen der Übersichtlichkeit beziehe ich mich auf der Ebene der Beispiele in erster Linie auf Arbeitskämpfe. Über die im Text gemachten Literaturangaben hinaus möchte ich insbesondere auf folgende Bücher verweisen: Nanni Balestrini/Primo Moroni: Die goldene Horde. Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien. Berlin/Göttingen 1994; Torsten Bewernitz (Hrsg.): Die neuen Streiks. Münster 2008; Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Frankfurt/New York 2007; Flying Pickets (Hrsg.): Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet. Berlin/Hamburg 2007; Holger Marcks/Matthias Seiffert (Hrsg.): Die großen Streiks. Münster 2008; Radaktion Druckwächter (Hrsg.): Akteure berichten über den Arbeitskampf bei AEG/Elektrolux in Nürnberg 2005-2007. Berlin 2009; Transact Nr 2 „Krise und soziale Kämpfe“ (http://transact.noblogs.org); Wildcat 68, Beilage zu Fabrikbesetzungen in Argentinien, Sommer 2004.