„Weil deine Freiheit mit meiner verbunden ist“. Leitplanken zur Kooperation zwischen Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten.
südlink 1/2017
Spätestens als sich am 4. September 2015 mehrere tausend Menschen vom Budapester Hauptbahnhof zu Fuß auf den Weg Richtung Österreich gemacht haben, dämmerte es nicht nur Angela Merkel, sondern der europäischen Öffentlichkeit insgesamt: Es waren nicht Aktivist_innen, die sich in jenen Tagen anschickten, das Europäische Grenzregime buchstäblich aus den Angeln zu heben. Ausschlaggebend war vielmehr die massenhafte Aneignung des grundlegenden Rechts auf Bewegungsfreiheit durch ganz normale Menschen – junge wie alte, Kinder, Frauen und Männer, gläubige und nicht gläubige, gesunde und solche, die im Rollstuhl saßen. Diese ebenso simple wie grundlegende Feststellung verweist darauf, dass es die Migrant_innen und Geflüchteten selbst sind, die Deutschland, mithin Europa verändern – und das bereits seit langem.
So stand hierzulande noch zu Beginn der Kohl-Ära 1982 der Satz „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. „Migrationspolitik war Migrationsverhinderungspolitik“, wie der Journalist Christian Jakob (2016) in seinem wunderbaren Buch „Die Bleibenden“ bissig anmerkt. Die Migrant_innen und Geflüchteten haben indessen nicht akzeptiert, dass Deutschland kein Einwanderungsland sein wollte. Vielmehr haben sie, so Jakob weiter, „dieses Dogma herausgefordert, den Zugang zu Deutschland freigekämpft und dabei die Gesellschaft verändert“ – erkennbar an Städten wie Düsseldorf, Nürnberg oder Frankfurt, wo 35 bis 45 Prozent der Wohnbevölkerung Menschen mit Migrationsbezügen sind.
Zugespitzter formuliert: Das hier skizzierte Verständnis von Migration und Flucht beruht auf der Überlegung, dass der Begriff der sozialen Bewegung nicht sozialwissenschaftlich verkürzt, sondern um die Dimension alltäglicher, oft still vonstattengehender Widerständigkeiten ergänzt werden sollte. Es gilt also, auch die hartnäckigen Alltagskämpfe, ja Überlebensstrategien von Geflüchteten und Migrant_innen als Widerstandsakte zu begreifen, das heißt als hochgradig effektive Versuche, die Grenzen der Staatsbürgerschaft aufzubrechen, neue transnationale Räume der Freiheit und Gleichheit zu erschließen und das Recht auf Mobilität einzufordern beziehungsweise in Anspruch zu nehmen.
Relevant ist eine solche Betrachtungweise vor allem für die praktische Zusammenarbeit zwischen selbstorganisierten Geflüchteten und antirassistischen (Willkommens-)Initiativen. Zum einen, weil deutlich wird, dass Geflüchtete zwar Unterstützung brauchen, aber keineswegs schutzlos oder hilfsbedürftig sind – jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es in dem von karitativen Paternalismen und Dominanzen durchzogenen Flüchtlingshelfer-Diskurs gang und gäbe ist. Zum anderen, weil unterstrichen wird, wie abwegig es ist, selbstorganisierten Geflüchteten immer wieder ihre Fähigkeit abzusprechen, realitätstaugliche politische Urteile zu fällen:
Als beispielsweise im Jahr 2000 beim internationalen (von der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen organisierten) Flüchtlingskongress in Jena mit circa 600 Teilnehmer_innen aus vierzig Ländern die Kampagne gegen die Residenzpflicht ins Leben gerufen wurde, reagierte der damalige antirassistische Mainstream unverständig, ja grantelig. Das Projekt wurde als „humanitär“ und somit „flüchtlingspolitisch beschränkt“ abgestempelt, zudem sah sich The Voice Refugee Forum angesichts seiner Hartnäckigkeit mit dem Vorwurf konfrontiert, auf dem schlechten Gewissen europäischer Aktivist_innen zu „surfen“, einzig mit der Zielsetzung, sogenannte „Kampagnensoldaten“ zu rekrutieren. Die so Gescholtenen kritisierten ihrerseits, dass die ablehnende Haltung Ausdruck weißer Ignoranz gegenüber einer rassistischen Sonderverordnung sei, die eine den gesamten Lebensalltag von Geflüchteten durchdringende Erfahrung von Demütigung, Isolierung und Einschüchterung darstelle und somit maßgeblich dafür verantwortlich sei, dass viele Geflüchtete ihr Recht auf politische Betätigung beziehungsweise Organisierung kaum wahrnehmen würden.
10 Jahre später ein ähnliches Bild: Als sich im Juni 2012 in Würzburg mehrere Geflüchtete aus Protest gegen die deutsche Asylpolitik symbolisch die Münder zunähten, löste dies auch unter (antirassistischen) Menschenrechtsorganisationen einen Sturm der Entrüstung aus. Die Geflüchteten hätten sich in der Hausnummer geirrt, in einer Demokratie sei ein derart selbstzerstörerischer Protest weder legitim noch zielführend. Drei Monate später initiierten unterdessen die gleichen Leute einen 600 Kilometer langen Protestmarsch von Würzburg nach Berlin, der sich als Startsignal zu einem beispiellosen, fast zweijährigen Protestzyklus selbstorganisierter Geflüchteter quer durch Deutschland entpuppen sollte.
Mit Blick auf diese und viele vergleichbare Konflikte wurde bereits innerhalb des NoLager-Netzwerks (2002-2007) ein Neustart versucht: Aktivist_innen mit und ohne Flucht- oder Migrationserfahrung verständigten sich darauf, im Rahmen einer intensivierten Kooperation an dem Projekt eines trans-identitären WIRs zu arbeiten, das heißt an der Schaffung eines politischen Akteurs, der zwar die unterschiedlichen Ausgangssituationen ernst nimmt, auf dieser Basis jedoch gemeinsame Perspektiven, Interessen und Forderungen formuliert und somit die aus der rassistischen Struktur der Gesellschaft hervorgehenden Wir-Ihr-Dichotomien zumindest auf dem antirassistischen Feld aufbricht. Seitdem hat sich vieles geändert: Immer mehr antirassistische bzw. transtnationale Netzwerke wie Welcome to Europe, Afrique-Europe-Interact oder Watch The Med Alarmphone fühlen sich dieser Programmatik verpflichtet – mit der Konsequenz, dass sich mittlerweile mindestens sechs Leitplanken herauskristallisiert haben, die in der gemischten Zusammenarbeit zwischen Aktivist_innen mit und ohne Flucht- oder Migrationshintergrund auf jeden Fall beachtet werden sollten.
Inklusive Strukturen: Eine der am häufigsten formulierten Kritikpunkte von Geflüchteten lautet, dass sie zwar von Nicht-Geflüchteten als Gäste eingeladen werden, allerdings kaum die Bereitschaft besteht, gemeinsame Kampagnen oder Veranstaltungsformate zu entwickeln. Wer also will, dass die Interessen, Blickwinkel und Forderungen von Geflüchteten in der Öffentlichkeit angemessen repräsentiert werden, kommt an der Schaffung inklusiver Strukturen nicht vorbei. Hierzu gehören unter anderem: Etablierung von Mehrsprachigkeit als internes und externes Kommunikationsprinzip (inklusive Bereitstellung schriftlicher Übersetzungen), sorgfältiger Umgang mit öffentlichkeitswirksamen Sprecher_innenpositionen, Berücksichtigung davon, dass nicht alle gleichermaßen Zugang zu Internet, Telefon oder Schriftlichkeit haben (oft ist der Credit aufgebraucht oder Sprachnachrichten sind besser als Textnachrichten), kollektive Geldverwaltung etc. Unerlässlich ist in diesem Zusammenhang auch die Bereitschaft, sich mit der Situation in den Herkunftsländern auseinanderzusetzen, also nicht willkürliche Trennungsstriche zu ziehen, wo dies aus Sicht der Geflüchteten weder politisch noch persönlich Sinn macht.
Selbstorganisierung: Geflüchtete sehen sich nicht nur systematischen Entrechtungen und Rassismus, sondern auch kultureller und sozialer Marginalisierung ausgesetzt. Umso wichtiger ist es, Selbstorganisierung politisch und finanziell zu unterstützen. Denn derartige Empowermentprozesse sind unter anderem die Voraussetzung dafür, dass Geflüchtete ebenbürtig in gemischten Kampagnenbündnissen oder Vorbereitungstreffen agieren können.
Dringlichkeit und Kontinuität: Geflüchtete sind von dem, was Gegenstand antirassistischer Kampagnen ist, häufig selber betroffen, im Falle von Aufenthaltsfragen auf bisweilen unberechenbare Weise. Entsprechend ist es immer wieder erforderlich, kurzfristig und unter beträchtlichem Zeitdruck komplizierte Kommunikations- und Entscheidungsprozesse zu durchlaufen. Das aber bedeutet, dass Urlaube oder Auszeiten stets gemeinsam abgestimmt und nicht seitens der Nicht-Geflüchteten als selbstverständliches Privileg in Anspruch genommen werden können. Ebenfalls elementar ist in diesem Zusammenhang die Bereitschaft, Kampagnen als langfristige Projekte anzulegen. Denn Geflüchteten ist durch punktuelle Strohfeuer kaum geholfen, vor allem taugen sie nicht, jene wechselseitigen Vertrauensverhältnisse aufzubauen, um die bereits erwähnten Wir-Ihr-Dichotomien langfristig überwinden zu können.
Konditionalität: Immer wieder ist es in den letzten zwei Jahrzehnten vorgekommen, dass Nicht-Geflüchtete bei inhaltlichen Konflikten die Zustimmung zu bestimmten inhaltlichen Positionen zur Voraussetzung für ihre weitere Kampagnenbeteiligung gemacht haben – etwa wenn es um geschlechterpolitische Fragestellungen oder den Israel-Palästina-Konflikt gegangen ist. Das aber ist von Geflüchteten massiv kritisiert worden, wird doch auf diese Weise ausgerechnet jenes Machtgefälle instrumentalisiert, das in der gemeinsamen Kampagne überwunden werden soll. Entsprechend gehört zu gemischten Organisierungsprozessen nicht nur die Offenheit zu kontroversen Debatten. Beispielsweise wurde im NoLager-Netzwerk intensiv über die Frage der (Dis-)Kontinuitäten zwischen den Verbrechen des Kolonialismus und der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie gerungen – samt Kritik von Geflüchteten an eurozentristisch eingefärbter Opfer-Hierarchisierung. Nein, auch die Bereitschaft, Widersprüche bis zu einem gewissen Grad auszuhalten, ist elementar, gerade mit Blick darauf, dass es sich Geflüchtete oftmals gar nicht leisten können, antirassistischen Kämpfen den Rücken zu kehren.
Rassismus und Eurozentrismus: Niemand ist gefeit vor rassistischen und eurozentristischen Ressentiments. Und das gilt – wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen – für Geflüchtete und Nicht-Geflüchtete gleichermaßen. In diesem Sinne sollte bei Kampagnen von Anfang eine Gruppenkultur hergestellt werden, die es allen Beteiligten erlaubt, angst- und stressfrei Strukturen, Abläufe oder Verhaltensweisen zu kritisieren, die als rassistisch oder diskriminierend wahrgenommen werden.
Solidarität: Viele Geflüchtete stehen persönlich unter enormen Druck. Nicht nur aufenthaltsrechtlich, auch psychisch und finanziell – letzteres, weil zum Beispiel Anwaltskosten oder die Behandlung eines kranken Familienmitglieds im Herkunftsland bezahlt werden müssen. Insofern sei explizit darauf hingewiesen, dass politische Zusammenarbeit und persönliche Unterstützung stets Hand in Hand gehen sollten – allein deshalb, weil dies die Voraussetzung dafür ist, dass geflüchtete Personen sich halbwegs kontinuierlich an der gemeinsamen politischen Arbeit beteiligen können.
Manche dieser Leitplanken mögen plausibel, andere wie Zumutungen erscheinen. Verwiesen sei daher abschließend auf die berühmte, von der (australischen) Murri-Aktivistin Lilla Watson kreierte und 2003 von der Flüchtlingsinitiative Brandenburg auf T-Shirts gedruckte Devise, die bereits in den Debatten im NoLager-Netzwerk als normativer Leitstern fungiert hat: „Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen, dann verschwendest du deine Zeit. Wenn du aber gekommen bist, weil deine Freiheit mit meiner verbunden ist, dann lass uns zusammen arbeiten“.
Olaf Bernau (NoLager Bremen) ist bei Afrique-Europe-Interact aktiv.