Migrant*innen erheben die Stimme. Während Marokko seine Migrationspolitik neu ausrichtet, organisieren sich die Geflüchteten – trotz der Repression, der sie bis heute ausgesetzt sind.

Südlink 187 – März 2019

Seit Anfang der 1990er Jahre ist Marokko ein Hotspot für Migrant*innen. War das Königreich für Flüchtende aus Westafrika lange Zeit nur Transitland auf dem Weg nach Europa, suchen viele von ihnen inzwischen eine Perspektive in dem Maghreb-Land. Die Migrant*innen-Organisation ARCOM konnte sogar ein Rasthaus für Frauen gründen. Die Geschichten seiner Bewohnerinnen zeigen, wie wichtig es ist.

Eine der markantesten Hinterlassenschaften spanischer Herrschaft in Nordafrika sind die autonomen Städte Ceuta und Melilla. Beide gehören zu Spanien, liegen aber an der marokkanischen Mittelmeerküste. Bis Anfang der 1990er Jahre verwies lediglich ein Grenzstein auf die Existenz zweier Länder. Es war die Zeit, als Marokkaner*innen noch visafrei nach Spanien einreisen konnten. Heute hingegen sind Ceuta und Melilla von einem sechs Meter hohen Doppelzaun umgeben. Dieser soll verhindern, dass Migran*innen aus Nord- und Subsahara-Afrika die Städte betreten und somit quasi automatisch aufs spanische Festland weiterreisen können. Entsprechend kommt es an den Zäunen immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Migrant*innen und marokkanischer beziehungsweise spanischer Polizei – regelmäßig auch mit Schwerverletzten und Toten.

Wie aber konnte sich eine grüne Grenze innerhalb weniger Jahre zu einer der am stärksten überwachten Hightech-Grenzen der Welt entwickeln? Die Antwort ist schlicht und macht zugleich deutlich, wie willkürlich das Projekt eines an den Außengrenzen abgeschotteten Europas ist: Bis 1989 gab es so gut wie keine afrikanischen Migrant*innen, die irregulär auf dem Land- oder Seeweg nach Europa gekommen sind. Dies änderte sich erst mit der schrittweisen Verschärfung des EU-Grenz-, Visa- und Aufenthaltsregimes seit Mitte der 1980er Jahre, also in jener Frühphase europäischer Migrationspolitik, in der nicht nur der damalige Ministerpräsident Baden-Württembergs Lothar Späth gezielt rassistische Ressentiments entfachte: „Die Buschtrommeln werden in Afrika signalisieren: Kommt nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst ihr ins Lager.“

Erst jetzt wurden die nordafrikanischen Länder zur umkämpften Transitzone. Im November 1988 wurde das erste Unglück von Boatpeople in der Meerenge von Gibraltar registriert. Die Dramen häuften sich, nachdem Spanien im Mai 1990 die Visumspflicht für alle Maghreb-Länder eingeführt hatte. Dabei sollte nicht aus dem Blick geraten, dass anfangs in den Booten überwiegend Migrant*innen aus Nordafrika saßen. In einem weiteren Schritt folgte 1993 der Bau eines 8,2 Kilometer langen, zu 75 Prozent von der EU finanziert Zaunes in Ceuta.

Dennoch dauerte es zwölf Jahre, bis die Weltöffentlichkeit im Herbst 2005 erstmalig Notiz von der zugespitzten Situation in Marokko nahm: Bei einem Massenansturm auf die Grenzzäune von Ceuta und Melilla starben mindestens 14 Migrant*innen, nicht zuletzt durch Schussverletzungen seitens der marokkanischen Polizei. Hinzu kamen rabiate Massenverhaftungen und Abschiebungen in die Wüste – Marokko hatte ganz offensichtlich seine ihm zugedachte Rolle als Türsteher Europas angenommen.

Wie es zur Neuausrichtung der marokkanischen Migrationspolitik kam

Umso bemerkenswerter der fundamentale Umschwung in der marokkanischen Migrationspolitik Anfang 2014: In einem ersten Schub erhielten knapp 19.000 Migrant*innen Aufenthaltspapiere, davon 8.000 aus Subsahara-Afrika. 2017 startete eine zweite Phase, in der 25.000 Migrant*innen einen Antrag auf Legalisierung stellten. Gemessen an circa 40.000 bis 80.000 Irregulären kann das nur ein Anfang sein, zumal die erteilten Aufenthaltserlaubnisse befristet sind. Gleichwohl kann es nicht überraschen, dass sich in den letzten Jahren rund 30.000 Migrant*innen aus Subsahara-Afrika dauerhaft in Marokko niedergelassen haben. Denn für die, die regularisiert wurden, bedeutet dies einen Anspruch auf Schulbesuch und Gesundheitsversorgung sowie Zugang zum regulären Arbeitsmarkt.

Die Gründe für die Neuausrichtung der marokkanischen Migrationspolitik sind vielfältig, mindestens drei Aspekte sind zu beachten: Erstens verfolgt Marokko immer stärker wirtschaftliche Interessen in Subsahara-Afrika. Eine bessere Behandlung von subsaharischen Migrant*innen schien daher dringend geboten. Zweitens dürfte eine solche Umarmungsstrategie auch mit Marokkos Bestreben zusammenhängen, offizielle Unterstützung für seine 1975 erfolgte und von der UN bis heute nicht anerkannte Annexion der Westsahara zu erlangen. Drittens steckt Marokko bereits seit langem in einer wirtschaftlichen Krise. Umso ausdrücklicher ist das Land auf gute Kooperation mit der EU angewiesen, sei es durch großzügige Visaregelungen für seine eigenen Staatsbürger*innen (die jährlichen Rücküberweisungen von marokkanischen Migrant*innen betragen sieben Milliarden Euro und somit sieben Prozent des Bruttoinlandproduktes), sei es durch Entwicklungszusammenarbeit oder Exporterleichterungen für marokkanische Agrarprodukte.

Deutlich wird also: Es ist ein Interessenmix, der die hochgradig widersprüchliche Migrationspolitik des marokkanischen Königreichs plausibel macht: Einerseits haben die subsaharischen und europäischen Länder ein gemeinsames Interesse daran, dass sich Marokko weiterhin als Zielland für Migrant*innen etablieren kann (denn dies verringert nicht nur den Migrationsdruck auf die EU, sondern auch die Todeszahlen im Mittelmeer). Andererseits soll die Repression aus Abschreckungsgründen unverändert stark bleiben – auch deshalb, weil Marokko im vergangenen Jahr erstmalig seit 2005 wieder zum wichtigsten Transitland für Migrant*innen auf dem Weg nach Europa geworden ist. Konkreter: Über

50.000 Migrant*innen haben es 2018 nach Spanien geschafft, nicht selten mit dem „Boza“-Erleichterungsschrei auf den Lippen.

Und doch: Es würde zu kurz greifen, die hier geschilderten Prozesse einzig auf die Interessenlagen der EU, des marokkanischen Staates und einiger subsaharischer Regierungen zu reduzieren. Denn die tödlichen Auseinandersetzungen im Oktober 2005 in Ceuta und Melilla sind auch für die migrantische Selbstorganisierung ein Fanal gewesen – teils in Marokko selbst, teils in jenen Ländern, in die seinerzeit Massenabschiebungen erfolgt sind. Viele Migrant*innen sagten sich, so dürfe es nicht weitergehen. Entsprechend entstanden an unterschiedlichen Orte migrantische (Selbsthilfe-)Vereine, die die Vorverlagerung des EU-Grenzregimes auf den afrikanischen Kontinent massiv kritisierten. Konsequenz war, dass Marokko international erheblich unter Druck geraten ist, die Menschenrechte stärker zu achten – eine politische Dynamik, die bereits beim Zustandekommen der beiden Regularisierungsphasen 2014 und 2017 eine erhebliche Rolle spielte.

Neue Perspektiven durch Selbstorganisation

Exemplarisch erwähnt sei die bereits im April 2005 in Rabat gegründete „Vereinigung der Geflüchteten und der migrantischen Gemeinschaften in Marokko“ (ARCOM). Sie unterstützt Migrant*innen nicht nur praktisch. Vielmehr setzt sie sich immer wieder mit öffentlichen Veranstaltungen und Sit-Ins für die Rechte von Migrant*innen ein, was zumindest zwischen 2005 und 2013 ein risikoreiches Unterfangen darstellte.

Einer ihrer Gründer heißt Emmanuel Mbolela, ein politischer Aktivist aus der DR Kongo. 2009 durfte er mit Hilfe des UNHCR Marokko verlassen. In Europa schloss er sich Afrique-Europe-Interact an und schrieb das Buch „Mein Weg vom Kongo nach Europa. Zwischen Widerstand, Flucht und Exil“ – mit einem erstaunlichen Nebeneffekt: Bei den Lesungen des inzwischen in vier Sprachen vorliegenden Buches sammelte Emmanuel Mbolela derart viele Spenden, dass ARCOM zusammen mit Afrique-Europe-Interact Anfang 2015 ein ausschließlich von Migrant*innen betriebenes Rasthaus für Frauen und ihre Kinder gründen konnte. In vier Wohnungen kommen 30 Frauen und etwa 20 Kinder für durchschnittlich zwei bis drei Monate unter, in einer fünften Wohnung finden Alphabetisierungskurse und Informationsveranstaltungen für die Bewohnerinnen sowie Nachhilfeunterricht und Theaterkurse für die Kinder statt.

Viele der Frauen haben auf ihrer Reise durch die Wüste oder in wilden Camps massive sexualisierte Gewalt erlitten, wie Astrid Mukendi berichtete, eine 2017 verstorbene Migrantin aus der DR Kongo, die ebenfalls zur Gründungsgeneration der ARCOM gehörte: „Die Frauen werden oft Opfer sexualisierter Gewalt. Als Migrantin bist du draußen schutzlos: Es kann dir passieren, dass du gekidnappt und eingesperrt wirst. Eine Frau wurde einen Monat lang festgehalten, nachdem sie in ein Taxi gestiegen war. Danach landete sie hier bei uns im Zentrum. Sie wurde mehrfach vergewaltigt. Andere Frauen waren im Norden, bei den Grenzzäunen. Nachdem man sie von dort oben abgeschoben hatte, wurden auch sie Opfer von Vergewaltigungen – Polizisten, Banditen, ja sogar ihre eigenen Landsleute vergewaltigen die Frauen. Viele von ihnen leiden unter schrecklichen Spätfolgen, andere haben ungewollte Schwangerschaften.“

Aus Sicht der ARCOM sind solche Vorkommnisse leider normal. Eine andere Mitarbeiterin des Rasthauses spricht daher von einem tief in der marokkanischen Gesellschaft verankerten Rassismus: „Hier kann es dir passieren, dass du getötet wirst. Du gehst auf die Straße, jemand kommt, schlägt dich und setzt dir das Messer an die Brust. Niemand wird einschreiten, auch nicht die Polizei. Wenn du Anzeige erstattest und sagst, dass du angegriffen wurdest, wird man dir antworten: Geh doch zurück in dein Land! Wir wollen euch hier nicht mehr sehen.“ Dennoch – oder gerade deshalb – arbeitet die ARCOM seit ihrer Gründung gezielt mit marokkanischen Organisationen zusammen. Im Falle des Rasthauses nehmen sogar marokkanische Kinder und Jugendliche an den Nachhilfe- und Theaterkursen teil. Dies zeigt: Es sind nicht zuletzt Migrant*innen, auch solche ohne Papiere, die Marokko von innen heraus verändern – jedenfalls schrittweise und unter Inkaufnahme schmerzhafter Einschränkungen: So sieht sich die ARCOM gezwungen, die Bewohnerinnen des Rasthauses anzuweisen, sich nicht vor den Häusern aufzuhalten oder länger zu unterhalten. Denn was in in vielen Ländern Subsahara-Afrikas ganz normaler Alltag ist, gilt in Marokko als unschicklich, insbesondere für Frauen.

Im Dezember 2018 hat die ARCOM nach 13-jähriger Wartezeit ihre Anerkennung als offiziell eingetragener Verein erhalten – ein Akt, der unter anderem Voraussetzung dafür ist, ein eigenes Vereinskonto führen zu können. Vorausgegangen war eine große Konferenz in Rabat, zu der die ARCOM unter dem Motto „Die Stimme an die Migrant*innen“ eingeladen hatte. Zwei Tage diskutierten rund 400 Migrant*innen über ihre Situation in Marokko – und was diese mit Europa und ihren Herkunftsländern zu tun hat. Viele Teilnehmer*innen zeigten sich zutiefst berührt, etwa von den frei vorgetragenen Poetry-Slams, die überwiegend Gewalt und zerschlagene Hoffnungen thematisierten, gleichzeitig aber eine Art katharsische Wirkung entfalteten.

Für die ARCOM stellte die Konferenz von Anfang an ein großes Wagnis dar, zumal die Behörden im Vorfeld unter anderem gefordert hatten, dass Kritik am marokkanischen Staat zu unterbleiben habe. Dennoch sollte sich am Ende jahrelanger Mut auszahlen, ein zweifelsohne beeindruckender Erfolg!

Weitere Infos zum Rasthaus und zur Konferenz unter www.afrique-europe-interact.net.

Olaf Bernau ist in dem transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact aktiv.