Dialog statt Wahldiktat. Soziale Bewegungen in Mali kritisieren neokoloniale Einflußnahme scharf
Beilage von Afrique-Europe-Interact in der bundesweiten Ausgabe der tageszeitung taz (7. Juni 2013)
Das derzeitige Konfliktgeschehen in Mali ist zweifelsohne komplex. Um so bemerkenswerter scheint es, dass die am 11. Januar begonnene Militärintervention Frankreichs unverändert auf große Zustimmung innerhalb der Bevölkerung stößt. Während nämlich die Intervention der ehemaligen Kolonialmacht von Anfang an als halbwegs überschaubares Übel galt, hätte ein erfolgreicher Vorstoß der Islamisten Richtung Süden nicht nur zu einer weiteren Destabilisierung des Landes geführt, sondern auch zu einer schleichenden Unterwanderung der malischen Gesellschaft durch islamistische Kräfte. So das Kalkül innerhalb der von vielen als existentiell erlebten Bedrohungslage. Hinzu kommt, dass das Eskalationsrisiko ebenfalls als relativ gering erachtet wird, einfach deshalb, weil die Islamisten innerhalb der Bevölkerung – anders als in Afghanistan oder Somalia – regelrecht verhasst sind.
Und doch sollte diese Positionierung nicht als laxe, ja verharmlosende Haltung gegenüber Krieg oder neokoloniale Einflussnahme gewertet werden, wie hierzulande in antimilitaristischen Kreisen bisweilen zu hören war. Denn die von DurchschnittsmalierInnen favorisierte Lesart zur Entstehung der aktuellen Krise weicht erheblich davon ab, wie die französische Regierung, die EU oder auch die Westafrikanische Wirtschaftsunion ECOWAS die Lage beschreiben. Danach seien nicht islamistische Terroristen das zentrale Problem. Im Zentrum der Kritik steht vielmehr der korrupte, vom Westen in den letzten 20 Jahren zur so genannten „Musterdemokratie“ hochstilisierte malische Staat. Aufhänger ist, dass Spitzen aus Regierung, Militär und Polizei – einschließlich des ehemaligen Präsidenten – seit 2003 eng mit der Al Quaida des Maghreb (AQMI) bei Schmuggelgeschäften und Lösegeldverhandlungen für entführte Geiseln paktiert und somit die Verankerung von Islamisten im äußersten Norden Malis äußerst fahrlässig begünstigt haben. Konsequenz war, dass diese zusammen mit den aus Libyen zurückgekehrten Tuareg-Rebellen der MNLA zwischen Januar und April 2012 den gesamten Norden Malis gleichsam im Handstreich erobern konnten (vgl. S. 3) Die faktische Preisgabe der nördlichen Regionen – samt Zerstörung lokaler Wirtschaftskreisläufe – war jedoch nicht die einzige Machenschaft eines zutiefst korrumpierten Staatwesens. All dies korrespondiert vielmehr mit Veruntreutung im großen Stil und einer von der Bevölkerungsmehrheit völlig losgelösten politischen Klasse – ablesbar unter anderem daran, dass im Parlament französisch gesprochen wird, obwohl dies allenfalls ein Drittel der Menschen überhaupt versteht. Hinzu kommen die von sämtlichen Regierungen Malis seit Mitte der 1980er Jahre rücksichtslos durchgesetzten Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank: Eine neoliberale Rosskur, die nicht nur zu umfangreichen Privatisierungen und Marktöffnungen, sondern auch zu massiven Einschnitten im ohnehin äußerst schwach entwickelten Bildungs- und Gesundheitswesen geführt hat.
So betrachtet dürfte derweil verständlich werden, weshalb der von niedrigen Rängen der Armee initierte Putsch vom 22. März 2012 bis heute von den allermeisten gutgeheißen wird. Selbst diejenigen, die ausdrücklich betonten, dass ein Putsch aus prinzipiellen Gründen einen Anschlag auf das Wesen demokratisch legitimierter Entscheidungsprozesse darstelle, formulierten die Einschätzung, dass die Absetzung des langjährigen Präsidenten Amadou Toumani Touré den Staat buchstäblich vor einer weiteren Instrumentalisierung und Zerstörung durch die alte politische Klasse gerettet habe. Es scheint insofern absolut folgerichtig, dass soziale Bewegungen in Mali bei ihrer aktuellen Suche nach Lösungsstrategien den Antagonismus zwischen Bevölkerung und Staat ins Zentrum rücken, so auch eine mit Spenden für Afrique-Europe-Interact ermöglichte Friedenskonferenz, die die malische Sektion unseres Netzwerks Anfang Mai in Bamako ausgerichtet hat: Über 300 Leute aus zahlreichen Orten waren gekommen, unter anderem Vertriebene aus dem Norden, Tuareg und Angehörige arabischstämmiger Communites. Im Mittelpunkt stand insbesondere die Verständigung darüber, dass es 20 Jahre nach dem Friedensabschluss zwischen Tuareg und malischer Gesellschaft irreführend wäre, von einem ethnisch aufgeladenen Nord-Süd-Konflikt zu sprechen. Vielmehr müsse hervorgehoben werden, dass sämtliche Teile der Bevölkerung von Korruption und Misswirtschaft betroffen seien, nicht nur einzelnen Gruppen. Und das gelte um so mehr, als immer wieder mit den historisch aufgeladenen Konflikten gezündelt würde – so geschehen unter Ex-Präsident Touré, der jahrelang verschiedene Tuareg-Clans im Norden gezielt gegeneinander ausgespielt habe. Nötig seien also, so das Fazit der Friedenskonferenz, zwei Dinge: Einerseits, der durchaus realen Gefahr eines so genannten „Amalgams“ entgegenzutreten, also der Ineinssetzung von Rebellen, islamistischen Milizionären und Drogenhändlern mit Tuareg oder arabischstämmiger Bevölkerung, wie es bei Übergriffen von Teilen der malischen Armee kurz nach Beginn der französischen Militärintervention mehrfach zum Ausdruck gekommen ist. Andererseits, einen neuen „sozialen Vertrag“ zwischen sämtlichen Bevölkerungsgruppen und der politisch-institutionellen Sphäre als solcher herbeizuführen – was allerdings voraussetze, in dialogorientierten Versammlungen unter Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen die jüngste Geschichte systematisch aufzurbeiten. Es dürfte von daher kaum verwunderlich sein, dass sich derzeit viele empört darüber zeigen, dass im Zuge der Militärintervention und des bis heute gültigen Ausnahmezustandes die politische Auseinandersetzung über den zukünftigen Weg Malis quasi über Nacht abgewürgt wurde. Dabei sorgt insbesondere der frühe, vom Westen aufgezwungene Wahltermin im Juli für lautstarke Kritik, nicht zuletzt dessen erpresserische Koppelung an die Wiederaufnahme der Entwicklungshilfe. Denn je früher gewählt würde, desto stärker spiele dies den alten Eliten in die Hände. Einfach deshalb, weil die etablierten Akteure als einzige in der Lage seien, ohne längeren Vorlauf eigene KandidatInnen aufzustellen.
Schließlich: Ob in Mali oder anderswo, immer wieder zeigt sich, dass die EU im Falle Afrikas unverändert autoritäre Regime unterstützt, soziale Bewegungen unter Druck setzt und Flüchtlinge auf ihrem Weg Richtung Europa brutal verfolgt. Das ist der Grund, weshalb sich Afrique-Europe-Interact vom 13. bis 16. Juni in Berlin an einem Tribunal gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland beteiligen wird (vgl. S. 4).