22.09.2021 | Lokale Konflikte und Gewalteskalation im Office du Niger (Mali)

Am 22. September 2021 erhielt ich per Whatsapp ein Video aus Mali, in dem ein aufgebrachter Jäger aus der Bewässerungsregion Office du Niger (im Zentrum Malis) Mitgliedern der bewaffneten Dschihadisten-Gruppe „Katiba Massina“ (Massina-Befreiungsfront) mit Vergeltung droht, sollten sie ihre Belagerung des Dorfes Dogofry nicht sofort beenden. Das Video zeigt die ganze Komplexität der aktuellen Gewalteskalation im Sahel, wie auch eine zusammenfassende Übersetzung deutlich macht, die mein Mitstreiter Alassane Dicko aus Bamako dankenswerterweise auf französisch erstellt hat (teils in direkter, teils in indirekter Rede):

„Das Volk von Dogofry hat eine große Versammlung einberufen, um sich für die Verteidigung ihres Gebietes zu organisieren. Sie leisteten einen Blutschwur, um den Eindringlingen mit ihren materiellen Mitteln und mystischen Ressourcen entgegenzutreten.“ Der Sprecher weist darauf hin, dass sie ihre Dörfer nicht verlassen werden, wie von den Fulbe-Dschihadisten um Amadou Kouffa gefordert. Sie appellieren an den Dschihadistenführer, seine Methoden zur Verbreitung des Islam zu überdenken: „Wenn Amadou Kouffa seine Kämpfer, die ihre Existenz bedrohen, nicht zurückruft“, so der Jäger, „dann werden die Fulbe die Gegend bald verlassen müssen [weil die Anhänger von Amadou Kouffa überwiegend der Bevölkerungsgruppe der Fulbe angehören – Olaf Bernau]. Denn die Menschen in Dogofry sind bereit zu kämpfen und werden nicht weglaufen. Sie werden sich organisieren, um die Fulbe zu jagen, und bald werden sie mehr sein, ungeachtet dessen, dass sie ursprünglich friedlich und zum wechselseitigen Vorteil mit den Fulbe zusammengelebt haben.“ Problematisch sei auch, „dass der Islam nie gesagt hat, dass man die Menschen durch Blutvergießen und Massaker unterwerfen solle. Und das umso mehr, als sie alle seit ihren Großvätern als Muslime geboren wurden.“ Der Jäger fordert Amadou Kouffa daher auf, sich zusammenzureißen. „Denn es ist nicht islamisch, Ernten niederzubrennen, Frauen, Kinder und wehrlose Ältere in Dörfern zu töten und Vieh wegzutragen – in wessen Namen nur?“

Hintergrund der Rede ist, dass Dschihadisten immer öfter Dörfer belagern oder angreifen, um die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen oder um dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung klein beigibt und die Dschihadisten dadurch ihre Einflusssphäre ausdehnen können. Um das zu erreichen, ergreifen dschihadistische Gruppierungen häufig Partei zugunsten einzelner Bevölkerungsgruppen, die im Streit mit anderen Bevölkerungsgruppen liegen. Eine besondere Rolle spielen dabei die Fulbe – besser bekannt unter ihrem französischen Name der Peulh. Denn die Fulbe sind Viehhirt:innen (jedenfalls die, die auf dem Land leben) und werden bereits seit Jahrzehnten diskriminiert, insbesondere, indem immer mehr Weide- in Ackerland umgewandelt wird, ohne dass die Fulbe Ersatzflächen erhalten würden. Folge ist, dass sich einzelne Fulbe verstärkt den Dschihadisten angeschlossen haben, und diese wiederum zeigen sich „erkenntlich“ – etwa dadurch, dass sie Landkonflikte per Waffengewalt zugunsten von einzelnen Fulbegemeinschaften entscheiden.

Es würde zu weit führen, die hieraus hervorgegangenen Konfliktdynamiken im Detail zu erklären. Stattdessen möchte ich stellvertretend auf drei Texte verweisen, die das Zustandekommen der Eskalationsspirale im Zentrum Malis rekonstruieren und die auch klar machen, dass es nicht um ethnisch-religiöse Spannungen geht, sondern um soziale Konflikte und Interessengegensätze, die ihrerseits durch weitere Probleme verschärft werden – etwa durch Klimawandel, Landgrabbing und Bevölkerungswachstum oder durch den Umstand, dass offizielle und traditionelle Konfliktklärungsmechanismen immer weniger zum Tragen kommen. Letzteres deshalb, weil sich Richter:innen genauso wie lokale Persönlichkeiten schon seit langem bestechen lassen und daher nicht mehr in der Lage bzw. gewillt sind, bei Konflikten um Land, Wasser und andere Ressourcen faire und auf Versöhnung zielende Urteile zu fällen.

Und noch etwas ist wichtig: Die Dynamiken zeigen auch, dass das Gewaltgeschehen im Sahel nur verständlich wird, wenn man die Bereitschaft mitbringt, sich auf lokale Konfliktkonstellationen einzulassen (die überall im Sahel unterschiedlich ausfallen). Denn es ist irreführend, wie es seitens der Friedensbewegung viel zu häufig geschieht, die Konflikteskalation primär auf eine vermeintliche Militarisierung von außen zurückzuführen. Diese Problematik gibt es, aber sie ist nur eine Facette unter vielen.

Zum Weiterlesen:

a) Bettina Rühl: Die Unsicherheit in Mali wächst, in: Deutschlandfunk, 28.05.2019.

b) Olaf Bernau: Kampffeld Sahelzone: Wie der Dschihadismus von der Klimakrise profitiert, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2021.

c) Tor A. Benjaminsen; Boubacar Ba: Fulani-Dogon Killings in Mali: Farmer-Herder Conflicts as Insurgency and Counterinsurgency, in: African Security, Volume 14, 2021 – Issue 1.