20.10.2021 | „Selten habe ich im Sahel einen derartigen Überdruss am Westen erlebt“. Interview mit dem Anthropologen Jean-Pierre Olivier de Sardan
Vorbemerkung: Seit Jahrzehnten gehört der französisch-nigrische Anthropologe Jean-Pierre Olivier de Sardan zu den bekanntesten Vertreter:innen seines Faches. 2001 gründete er in Niamey das Forschungsinstitut LASDEL (Laboratoire d’études et de recherches sur les dynamiques sociales et le développement local), an dem heute mehr als 30 Wissenschaftler:innen aus verschiedenen afrikanischen Ländern arbeiten. Am 4. Oktober erschien in der französischen Tageszeitung Liberation ein bemerkenswertes Interview mit dem inzwischen 80-jährigen emeritierten Professor – der Titel lautete: «Au Sahel, j’ai rarement observé un tel ras-le-bol à l’égard de l’Occident» [Selten habe ich im Sahel einen derartigen Überdruss am Westen erlebt]. Das Interview behandelt auf pointierte Weise viele Aspekte der aktuellen Vielfachkrise im Sahel, befindet sich aber leider hinter einer Bezahlschranke. Insofern habe ich lediglich einige der in meinen Augen spannendsten Passagen ausgewählt und übersetzt. Dramatisch klingt unterdessen das Fazit von Jean-Pierre Olivier de Sardan. Danach hätte der radikale Islamismus im Sahel schon längst die Oberhand gewonnen, auch wenn er ungleich weniger brutal auftrete als die Taliban oder der IS.
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Wiederholt Frankreich in Mali die Fehler der Vereinigten Staaten in Afghanistan?
Natürlich kann man Gemeinsamkeiten finden: der Vergleich ist fruchtbar, aber er hat auch seine Grenzen. Die erste Parallele, die sich in den amerikanischen Medien aufgrund der Macht der Bilder aus Kabul aufdrängte, war Vietnam mit dem Fall von Saigon. Wie in Afghanistan hatten die Amerikaner Milliarden von Dollar in eine völlig korrupte Armee und ein illegitimes Regime gesteckt: Dies führte zu der Katastrophe, die wir kennen. In Mali ist ein ähnliches Phänomen zu beobachten. In den letzten zwanzig Jahren wurde die malische Armee mit Geld überschwemmt, die Ausbildung wurde auf allen Ebenen verstärkt. Aber je mehr Geld man in ein korruptes System steckt, desto mehr nährt man es.
Und die Grenzen des Vergleichs?
Der Umfang der französischen und amerikanischen Militäroperationen ist nicht derselbe. Barkhane hat einige tragische Fehler begangen, aber letztlich nur sehr wenige im Vergleich zu den Amerikanern in Afghanistan. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass das afghanische Regime völlig diskreditiert war und als Marionette in den Händen Washingtons angesehen wurde. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Kampf der Taliban auch ein nationalistischer Kampf ist. Dies ist in der Sahelzone nicht der Fall. Es stimmt, dass die Regierungen von der Bevölkerung verurteilt werden, aber nicht als „Diener des Westens“. Sie werden hauptsächlich wegen ihrer eigenen Schwächen angegriffen.
[Und noch etwas – O.B.]: Die Struktur der malischen Gesellschaft und des religiösen Fundamentalismus ist nicht dieselbe wie in Afghanistan. In der Sahelzone gibt es eine starke nicht-dschihadistische, gewaltfreie fundamentalistische Strömung, die in gewisser Weise mit den Aufständischen auf dem Gebiet des strengen Islam konkurriert. In Mali gruppiert sie sich um den einflussreichen Imam Mahmoud Dicko.
Emmanuel Macron hat das Ende der Operation Barkhane und die Reduzierung des französischen Militärpersonals in der Sahelzone angekündigt. Ist dies das Ende eines Zyklus, der Idee des Staatsaufbaus in Afghanistan und der „Rückkehr des Staates“ in Mali?
Ein Staat wird nie von außen aufgebaut. Selbst mit den besten Absichten der Welt, mit all den internationalen Hilfsgeldern, funktioniert es nicht. Zunächst einmal sind wir mit der Schwäche der politischen Klasse Malis konfrontiert.
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Neben der militärischen Aktion hatte Paris zu einer „zivilen Kraftanstrengung“ aufgerufen, mit besonderem Schwerpunkt auf Entwicklungsprojekten…
Seit fünfzig Jahren gibt es in der Sahelzone ein Problem mit den finanziellen Zuwendungen für Hilfsgüter. Eine Verlängerung der Liste der Beitragszahler oder eine Erhöhung der Schecks ist keine Lösung. Die Sahel-Allianz und die Sahel-Koalition [beides sind westlich dominierte Bündnisse zur Koordinierung der Unterstützung für die Sahelländer] sind Teil dieser unglaublichen Praxis finanzieller „Berieselung“. In Mali begann es mit den aufeinander folgenden Hungersnöten in den 1970er Jahren. Aber diese Beihilfe hat perverse Auswirkungen. Eine der schwerwiegendsten ist die Abhängigkeit von der Hilfe. Es ist nicht nur Geld, das von außen kommt, es sind auch Ideen, Projektplanung und Denkweisen.
Und dies trägt zur Schwächung der Staaten bei?
Wenn wir von Abwanderung der Fachkräfte [brain drain – O.B.] sprechen, geht es nicht um den Arzt aus Benin, der nach Frankreich geht, sondern um die Tausenden Beamten, die von Entwicklungsagenturen, großen NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) und internationalen Akteuren [innerhalb der Sahelländer selbst – O.B.] eingestellt werden. Die besten Beamten gehen, und diejenigen, die nicht gegangen sind, träumen davon, das zu tun, was die anderen schon getan haben. Dazu müssen sie gute Schüler sein, die die Sprache der Spender sprechen, auch wenn sie nicht an sie glauben. Daher auch die weit verbreitete Doppelmoral. All dies führt zu einem öffentlichen Dienst, in dem die Führungskräfte kein Interesse an Innovation oder echten Reformen haben.
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Wie können wir gegen dieses Phänomen vorgehen?
Wir stehen auf des Messers Schneide: Ich glaube nicht, dass wir den Hahn der Hilfe zudrehen sollten, und ich glaube auch nicht, dass Privatisierungen die Lösung sind. Was wir brauchen, ist mehr Infrastruktur, mehr Unterstützung für interne Reformer und lokale Initiativen, mehr Berücksichtigung der alltäglichen Welt [der Menschen – O.B.] und der informellen Praktiken [in der Wirtschaft – O.B.] […] In der Sahelzone gibt es eine starkes Interesse am Staat, es gibt eine große Sehnsucht nach qualitativ guten öffentlichen Dienstleistungen, denn letztere haben sich erschreckend verschlechtert.
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Ist die starke Bevölkerungsentwicklung eine Gefahr für die Sahelländer?
Ich stehe diesem Konzept einer [angeblichen – O.B.] „demografischen Bombe“ skeptisch gegenüber [wie sie in Frankreich u.a. der bekannte Journalist Stephen Smith vertritt – O.B.]. Aber die Bevölkerungsentwicklung ist eine Herausforderung für die Staaten, das ist sicher. Es reicht nicht aus, Verhütungsmittel zu verteilen und immer mehr Geld in Präventionskampagnen zu stecken. Es ist offensichtlich, dass die Botschaft nicht ankommt. Kein Abgeordneter in Mali oder Niger wird in einem Wahlkampf darüber sprechen. In dieser Hinsicht lehnen selbst die Oberschichten die westlichen Vorstellungen vollständig ab. Dies ist ein Teil des Diskurses, auf dem die Fundamentalisten surfen: Warum kommen die Westler und mischen sich in etwas ein, das sie nichts angeht? Zumal es sich oft um amerikanische christliche NGOs handelt! Ich habe selten ein solches Gefühl der Enttäuschung über den Westen erlebt, und zwar in allen gesellschaftlichen Kreisen. Es herrscht ein tiefes Gefühl der Demütigung.
In Mali, Tschad und Guinea kam es in diesem Jahr erneut zu Militärputschen…
Jeder Putsch weckt einen Moment der Hoffnung. Wenn es keine Aussicht auf Besserung (in Mali) oder Abwechslung (in Guinea) gibt, wartet die Bevölkerung auf einen externen Retter. Dies ist parallel zur Diskreditierung der politischen Klasse zu sehen. Paradoxerweise ist die Armee jedoch einer der wichtigsten Knotenpunkte der Korruption in diesen Ländern. Jedes Mal behauptet das Militär, dass es sie loswerden wird. Vergeblich, natürlich. Viele Offiziere gehören zu den korruptesten Kadern.
Ist die Korruption wichtiger oder unerträglicher als früher?
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Es sind vor allem die Bereicherung, die Privilegien und die Prahlerei der Herrschenden und der großen Geschäftsleute, die die Menschen schockieren. Es ist auch das Scheitern der Entwicklung: Es gibt immer mehr Arbeitslose, die Diplome [Ausbildungsabschlüsse – O.B.] werden nutzlos, und daneben gibt es Politiker, die weiterhin Villen bauen, und Neureiche, die mit ihrem Reichtum protzen. Das erklärt die anhaltende Popularität von Thomas Sankara [der 1987 ermordete Präsident von Burkina Faso, eine Ikone der Jugend, Anm. d. Red.], der nachts in seinem 2CV herumfuhr, mit seiner Gitarre auf dem Rücksitz…
Kann die Justiz ein Bollwerk gegen Korruption sein?
Das sollte sie eigentlich sein, aber sie ist Teil des Problems! Die Justiz ist in den Gesellschaften der Sahelzone vielleicht das am meisten diskreditierte Organ des Staates. Dass der meistbietende recht bekommt [im Sinne der Bestechung von Richter:innen – O.B.] – das ist die Realität. Die Dschihadisten wissen das und richten in den von ihnen kontrollierten Gebieten ihre eigenen Justizmechanismen ein, die viel angesehener und weniger korrupt sind als die staatlichen Gerichte. Dies ist sogar ein Rekrutierungsfaktor für bewaffnete islamistische Gruppen. Natürlich reicht das nicht aus, um an Boden zu gewinnen, sie dringen auch mit Terror vor, verüben Massaker, schüchtern ein und ermorden diejenigen, die sich ihnen widersetzen.
Werden die Behörden in Mali endlich mit den Dschihadisten über den Frieden verhandeln müssen?
Es wird keine andere Wahl geben. Die französische Position [der Ablehnung des Dialogs mit Dschihadisten] ist unhaltbar. Paris wird nicht für die Malier entscheiden, wer mit wem spricht, das ist absurd. Dies war vertretbar, als die Dschihadisten hauptsächlich Ausländer, d.h. Algerier, Mauretanier usw. waren. Dies ist schon seit langem nicht mehr der Fall. Die Aufständischen werden von einem durchaus beachtlichen Teil der malischen Bevölkerung unterstützt. Diese Verweigerung des Dialogs trägt zu dem schlechten Image von Paris bei, und es ist nicht sehr klug, darauf zu bestehen.
Aber seien wir nicht naiv: Die bereits abgeschlossenen lokalen Friedensverträge bestätigen einen 90 prozentigen Sieg der Dschihadisten. Die Regeln des lokalen sozialen Spiels werden nun von ihnen festgelegt. Das Gleichgewicht der Kräfte fällt ganz zu ihren Gunsten aus. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Der Fundamentalismus ist bereits da, mit oder ohne die Dschihadisten. In Mali, Niger und im Norden Burkinas haben sie die ideologische Schlacht gewonnen, auch wenn sie in der Minderheit sind. Durch sie haben sich die Gesellschaft, die religiösen Praktiken und die Mentalität verändert. Die islamischen Bruderschaften haben sich selbst – also von innen heraus – verändert. Die religiösen Taktiken der Salafisten sind sehr geschickt. Im Moment sind die Fundamentalisten in Niger und Burkina noch nicht auf die politische Bühne getreten, in Mali nur ein bisschen. Aber sobald sie aus der Deckung kommen, kann die Umstellung sehr schnell erfolgen. In Mali sehe ich leider keinen anderen Ausgang, als dass die fundamentalistische Bewegung letztendlich an die Macht kommt.