11.11.2021 | Zur Eindämmung lokaler Gewaltkonflikte in Mali durch lokale Friedensverhandlungen. Hinweise zu den Analysen von Boubacar Ba

Boubacar Ba gehört in Mali zu den bekanntesten Sozialwissenschaftler:innen. Er stammt aus der Region Mopti und beschäftigt sich schon lange mit der Frage, weshalb in Mopti und Segou (den beiden Regionen, die das Zentrum des Landes markieren) die Gewalt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen immer stärker eskaliert. Hieraus sind in den letzten Jahren zahlreiche wichtige Veröffentlichungen hervorgegangen, unter anderem zwei Aufsätze, die er mit Tor A. Benjaminsen veröffentlicht hat: „Fulani-Dogon Killings in Mali: Farmer-Herder Conflicts as Insurgency and Counterinsurgency“ (African Security, Volume 14, 2021 – Issue 1) und „Why do pastoralists in Mali join jihadist groups? A political ecological explanation“ (The Journal of Peasant Studies, 46:1, 1-20 ). Im Kern geht Ba von der These aus, dass die Konflikte nur verständlich werden, wenn die allgemeinen Krisen (Krise des Staates, Klimakrise, Krise der Ökonomie etc.) mit lokalen Konfliktkonstellationen kurzgeschlossen würden. Denn die Geschichte zeige, dass aus einer allgemeinen Krise nicht automatisch eine lokale Gewalteskalation erfolge. Dieses Credo wird auch in einer kurzen Untersuchung deutlich, die Ba Anfang September mit Beatriz de León Cobo unter dem Titel „Centre du Mali : l’accord de Niono, d’un espoir de paix durable à la résurgence du conflit“ veröffentlicht hat.

Der Kreis Niono – mit der gleichnamigen Stadt Niono als Zentrum – liegt im Bewässerungsgebiet des Office du Niger, um das es bereits in verschiedenen Blogbeiträgen gegangen ist. Bis 2017 war das Office du Niger nur von gelegentlichen Anschlägen auf Brücken oder einzelne Polizeiposten betroffen. Doch seitdem ist die Lage buchstäblich eskaliert. Ba und de León Cobo rekonstruieren, wie sich in kurzer Zeit zwei ganz verschiedene Konfliktdynamiken überlagert haben. Am Anfang standen Auseinandersetzungen zwischen Viehirten (der Fulbe) und Ackerbauern (der Bambara) um knapper werdende Land- und Wasserressourcen. Diese Auseinandersetzungen waren nicht neu, genau betrachtet bestehen sie seit dem 19. Jahrhundert. Neu ist freilich, dass der Staat zunehmend unfähig geworden ist, zu einer produktiven Lösung der Konflikte beizutragen – auch deshalb, weil korrupte Staatsangestellte und Richter:innen in erster Linie an ihrer eigenen Bereicherung interessiert waren und wahlweise gerichtliche Entscheidungen nicht umgesetzt oder Gerichtsprozesse künstlich in die Länge gezogen haben (um weiterhin von beiden Konfliktparteien Bestechungsgelder annehmen zu können).

Im Ergebnis haben diese und zahlreiche weitere Probleme dazu geführt, dass eine 2015 gegründete dschihadistische Gruppierung namens Katiba Macina (Massina Befreiungsfront) begonnen hat, dass Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Die Katiba Macina setzt sich überwiegend aus Fulbe-Viehhirt:innen zusammen und macht sich vor allem für die Rechte der seit Jahrzehnten mehr oder weniger offen diskriminierten Viehhirt:innen stark. Begonnen hat es mit den schon erwähnten einzelnen Anschlägen. Doch hierauf haben malische Sicherheitskräfte derart brachial reagiert, dass die Katiba Macina rasch einen gewissen Zulauf durch Angehörige der halbnomadischen Fulbe-Gemeinschaften verzeichnen konnte, einfach deshalb, weil es auch zu zahlreichen Opfern unter (Fulbe-)Zivilist:innen gekommen war. Als Reaktion wiederum (und spätestens hier hat sich der Konflikt schleichend enthisiert) haben sesshafte Bambara-Bauern begonnen, Selbstverteidigungseinheiten aus traditionellen Dozo-Jägern aufzustellen, was sodann zu einer Spirale wechselseitiger (Vergeltungs-)Angriffe geführt hat.

Unter Vermittlung des Hohen Islamischen Rats (also des wichtigsten Gremiums aller Muslime in Mali) wurde im März 2021 ein vorläufiger Friedensvertrag zwischen der Katiba Macina und 12 Dörfern im Kreis Niono abgeschlossen. Doch der Vertrag war von Anfang an brüchig, es gab auch unterschiedliche Interpretationen, entsprechend sind die Konflikte bald wieder aufgeflammt (vgl. u.a. die Blogeinträge 22.09.2021: Lokale Konflikte und Gewalteskalation im Office du Niger (Mali) und 10.11.2021: Office du Niger (Mali): Frauen-Proteste nach Anschlag auf Überlandstraße (inklusive Interviews). Betrachtet man die von Ba und de León Cobo skizzierten Verhandlungen im Vorfeld des vorläufigen Friedensvertrages kann einem Angst und Bange werden. Denn deutlich wird, wie stark radikale Islamisten mittlerweile in Teilen der Bevölkerung Fuß gefasst haben (vgl. hierzu auch den Blogeintrag Interview mit dem Anthropologen Jean-Pierre Olivier de Sardan vom 20.10.2021) – ungeachtet dessen, dass nicht nur die Bevölkerung insgesamt, sondern auch die Fulbe terroristische Praktiken mehrheitlich ablehnen (die Fulbe auch deshalb, weil sie mit am stärksten von Strafexpeditionen durch Selbstverteidigungseinheiten der Dozos, staatliche Sicherheitskräfte und dschihadistische Gruppierungen betroffen sind). So hat die Katiba Macina die Einführung der Scharia, der Vollverschleierung von Frauen und der Zahlung einer aus dem Koran abgeleiteten Extrasteuer („Zakat“) in den von ihnen kontrollierten Gebieten gefordert. Zudem hat sie dem Ende ihrer mehrmonatigen Belagerung des Dorfes Farabougou ausschließlich unter der Bedingung zugestimmt, dass sich auch die malische Armee aus dem Dorf zurückzöge.

Unter den gegebenen Bedingungen dürfte es immer schwieriger werden, dieser fatalen Entwicklung effektiv etwas entgegenzusetzten. Und doch stehen vier Ansatzpunkte völlig außer Frage: Erstens muss sich die sozio-ökonomische Lage der Bevölkerung grundlegend verbessern (was wiederum ohne eine Rundherum-Erneuerung staatlicher Strukturen nicht möglich sein wird). Zweitens gilt es, lokale Dialog- und Versöhnungsinitiativen massiv zu stärken. Denn überall, wo die lokalen Gemeinschaften im direkten Austausch miteinander stehen und nach fairen Lösungen suchen, wird es für terroristische Gruppe ungleich schwieriger, diese Gemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen. Drittens müssen die staatlichen Sicherheitskräfte endlich in die Lage versetzt werden, den Schutz aller Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten (was ohne eine Art „Selbstreinigung“, d.h. umfängliche Sicherheitssektorreformen, nicht möglich sein wird). Diese Forderung wird nicht zuletzt von der betroffenen Bevölkerung selbst formuliert – zuletzt Anfang November im Rahmen mehrerer Demonstrationen von Frauen (vgl. 10.11.2021: Office du Niger (Mali): Frauen-Proteste nach Anschlag auf Überlandstraße (inklusive Interviews). Viertens ist die internationale Gemeinschaft aufgerufen – darunter auch Deutschland –, diese Prozesse nicht nur finanziell zu unterstützen (und zwar mit deutlich höheren Beträgen, als sie in der herkömmlichen Entwicklungszusammenarbeit üblich sind), sondern auch, indem politisch nicht ständig interveniert wird – etwa, was den Wahltermin betrifft. Letzteres ist auf den Umstand gemünzt, dass Europa derzeit (im Kielwasser der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS) extremen Druck auf die nach dem Doppelputsch (2021/2022) ins Amt gelangte Übergangsregierung ausübt, spätestens Anfang 2022 Wahlen abzuhalten. Grundsätzlich ist das durchaus nachvollziehbar – denn Putsche haben in Westafrika in den letzten Jahrzehnten die jeweiligen Situationen meist extrem verschlechtert. Im Falle von Mali ist allerdings zu beachten, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung hinter einer Verlängerung der Übergangszeit steht – als Voraussetzung dafür, einen wirklichen Neuanfang (mit neuen Politiker:innen) in die Wege zu leiten. Umso fragwürdiger ist es, dass dieser klar artikulierte Wille der Bevölkerung im Namen der Demokratie ausgehebelt werden soll, zumal absehbar ist, dass derartige (durch Sanktionen unterlegte) Erpressungen von außen Wasser auf die Mühlen von dschihadistischen und ähnlichen Kräften sein werden.